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Billard um halbzehn

Billard um halbzehn

Titel: Billard um halbzehn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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wenigstens das Lächeln? Er war immer ernst, kam nicht über Ferdis Tod hinweg, ließ seine Rachegedanken zu Formeln gefrieren, als sehr leichtes Gepäck trug er sie im Hirn, genaue Formeln, trug sie durch Feldwebel- und Offiziersquartiere, sechs Jahre lang, ohne zu lachen, wo Ferdi doch noch, als sie ihn verhafteten, gelächelt hatte, der Engel aus der Vorstadt, aus dem Mistbeet der Gruffelstraße; nur die drei Quadratzentimeter Daumenhaut hatten Erinnerung vollzogen; angesengte Turnlehrerfüße und das letzte Lamm von einem Bombensplitter getötet; Vater ward nicht mehr gesehen, nicht einmal auf der Flucht erschossen. Und niemals eine Spur gefunden von dem Ball, den Robert schlug.
    Schrella warf den Zigarettenstummel in den Abgrund, stand auf, schlenderte langsam zurück, zwängte sich zwischen TOD
    und gekreuztem Gebein wieder hindurch, nickte dem aufgescheuchten Nachtwächter zu, warf noch einen Blick zurück aufs Cafe Bellevue, ging die saubere leere Autobahn
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    hinunter auf den Horizont zu, wo Rübenlaub im Sommerlicht flimmerte; irgendwo mußte diese Straße die Linie Sechzehn kreuzen. Umsteigen zum Bahnhof, fünfundvierzig Pfennig; er sehnte sich nach einem Hotelzimmer, er liebte das Zufällige solchen Zu-Hause-Seins, die Anonymität dieser schäbigen Zimmer, die auswechselbar waren; Eisblumen der Erinnerung tauten in diesen Zimmern nicht auf; staatenlos, heimatlos, und am Morgen ein liebloses Frühstück von einem verschlafenen Kellner serviert, dessen Manschetten nicht ganz sauber waren, dessen Hemdbrust nicht mit Inbrunst, wie Mutter es getan hatte, gestärkt worden war; vielleicht konnte man eine Frage riskieren, falls der Kellner über sechzig war? ›Haben Sie einen Kollegen gekannt, der Schrella hieß?‹
    Weiter in die leere saubere Straße hinein, in den Himmel aus flimmerndem Rübenlaub, als Gepäck nur die Hände in den Taschen, und das Kleingeld an den Weg gestreut, für Hansel und Gretel. Postkarten waren der einzig erträgliche Kontakt mit dem Leben, das nach Ediths, nach Vaters, Ferdis Tod weiterging. ›Mir geht es gut, lieber Robert: ich hoffe von dir das gleiche; grüße meine mir unbekannte Nichte, meinen Neffen und deinen Vater‹, zweiundzwanzig Worte, zuviel Worte; zusammenstreichen den Text: ›Mir geht's gut, hoffe, dir auch, grüße Ruth, Joseph, deinen Vater; elf Worte; mit der Hälfte ließ sich das gleiche sagen; wozu herreisen, Händedrücken, eine Woche lang nicht: ich binde, ich band, ich habe gebunden konjugieren; Nettlinger unverändert finden, die Gruffelstraße unverändert; Frau Trischlers Hände fehlten.
    Himmel aus Rübenlaub, wie mit grünsilbernem Gefieder bewachsen; unten schaukelte die Sechzehn durch eine Unterführung. Fünfundvierzig Pfennig; alles ist teurer geworden. Gewiß war Nettlinger mit seiner Erläuterung der Demokratie noch nicht zu Ende; Spätnachmittags licht; seine Stimme wurde weich; und seine Tochter holte aus dem Wohnzimmer die Couchdecke - jugoslawisch, dänisch oder
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    finnisch, jedenfalls herrliche Farben -, legte sie dem Vater über die Schultern, kniete sich zu andächtigem Lauschen wieder hin, während die Mutter in der Küche - ›Bleibt ihr nur draußen, Kinder, bitte, es ist ein so herrlicher Nachmittag und so harmonisch‹ - würzig schmackhafte Schnittchen zurechtmachte, bunte Salate mischte.
    Die Vorstellung von Nettlinger ergab ein genaueres Bild als die Begegnung mit ihm; wie er die Lendenschnitte in sich hineinbefördert hatte, den besten, besten, allerbesten Wein dazu trinkend, schon in Nachdenken versunken, ob Käse, Eis, Kuchen oder ein Omelett dieses Mahl am würdigsten krönen würde.
    ›Eins, meine Herren‹, hatte der ehemalige Botschaftsrat gesagt, der den Kursus ›Wie werde ich Feinschmecker?‹ abhielt - ›Eins, meine Herren, müssen Sie nun selbst dem Gelernten hinzufügen, einen Hauch, nur einen Hauch von Originalität.‹
    Er hatte es in England an die Tafel geschrieben: ›er hätte getötet werden müssen‹; fünfzehn Jahre lang das Xylophon der Sprache bedient: ich lebe, ich lebte, ich habe gelebt, ich hatte gelebt, ich werde leben. Werde ich leben? Er hatte nie begriffen, daß es Menschen gab, die sich über der Grammatik langweilen konnten. Er wird umgebracht, er wurde umgebracht, er ist umgebracht worden, er wird umgebracht werden; wer wird ihn umbringen? Mein ist die Rache, hat der Herr gesagt.
    »Endstation, der Herr, Hauptbahnhof.«
    Das Gedränge war nicht geringer geworden: wer war hier

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