Billigflieger
Karzinomen bestücken. Jetzt aber war niemand hier. Absolut niemand. Das Meer und die Nacht gehörten mir ganz alleine.
Ich zog meine Turnschuhe aus und spazierte ein gutes Stück am Strand entlang. Die Wellen umspielten meine Füße, in der Ferne glitzerten die Lichter von Palma, und über mir leuchteten Millionen Sterne am klaren Himmel von Malle. Es war ein perfekter Augenblick, und allmählich kamen auch meine Gedanken zur Ruhe, in denen zuvor ein ziemliches Durcheinander aus Alkohol, Kneipentalk und Go-go-Girls geherrscht hatte.
Ich schlenderte in Richtung Balneario Nummer zehn. In dieser Höhe der Bucht ist nachts nicht mehr viel los. In den Hotels, die hier die Promenade säumen, wohnen gutsituierte Rentner und Patchworkfamilien mit ihren Kinderhorden. Menschen also, die um diese Uhrzeit längst schlafen.
Es war still und dunkel und einsam. Und ich dachte, dass ich vermutlich, wenn ich das nächste Mal nach Malle käme, um diese Uhrzeit auch in einem Hotel liegen und schlafen würde - in einem Zimmer mit meiner Frau und meiner Kinderhorde.
Der Gedanke löste ziemlich gemischte Gefühle in mir aus. Denn einerseits war es doch nur natürlich zu heiraten, Nachwuchs zu zeugen und nach und nach übergewichtig, schlecht gelaunt und antriebslos zu werden. Andererseits - ja, was eigentlich?
Während ich mir gerade Gedanken über dieses »andererseits« machte, sah ich - SIE.
Das heißt, zuerst war ich mir gar nicht sicher, was ich sah. Stand da ein Mensch in den Wellen? Oder eine Säule? Oder ein Walfisch, der zu viel Viagra geschluckt hatte und seine Erektion nicht mehr loswurde?
Ich ging ein paar Schritte weiter in die Richtung und stellte fest, dass ich keineswegs einer optischen Täuschung erlegen war. Was ich da sah, war ein Mensch. Es war sogar, genau genommen, eine Frau.
Sie stand bis zur Hüfte im Wasser, mitten in den Wellen, mitten im pechschwarzen Mittelmeer, vielleicht zehn Meter vom Strand entfernt, und rührte sich nicht. Sie stand da wie hypnotisiert.
Doch das allein war noch nicht einmal ungewöhnlich. Schließlich traf man hier immer mal wieder Mitternachtsbadegäste, die sich mit so viel Alkohol angeglüht hatten, dass sie im Meer eine Abkühlung suchten. Ungewöhnlich war höchstens, dass diese Frau alleine war. Und dass sie vollständig angezogen war, obwohl sie wie gesagt im Wasser stand.
Irgendwie spürte ich, dass da etwas nicht in Ordnung war. Und dass sie möglicherweise vorhatte, noch tiefer ins Wasser zu gehen und nicht wieder rauszukommen. Aber auch das war normalerweise noch kein Grund, um gleich Alarm zu schlagen.
Weil sich Frauen ja bekanntermaßen wegen allem möglichen Blödsinn immer direkt umbringen wollen. Weil ihre Frisur nicht sitzt. Oder weil der Typ, den sie anbeten, zufällig ein Rockstar ist und nur mit Dreizehnjährigen ins Bett geht. Oder weil ihre besten Freundinnen ein halbes Kilo weniger wiegen als sie selbst. (Darum ist man gut beraten, nicht direkt in Panik zu verfallen, nur weil sie ihrer Umwelt androhen, auf der Stelle aus dem Leben scheiden zu wollen. Sollen sie ihre Epiliergeräte doch einfach an ihre Handgelenke halten und feststellen, dass man sich damit die Pulsadern gar nicht aufschneiden kann. Sollen sie doch ruhig eine Handvoll Schlaftabletten runterwürgen, um dann auf dem Weg zum Klo festzustellen, dass sie aus Versehen ihr neues Abführmittel geschluckt haben. Sollen sie doch mit dem Aufzug aufs höchste Haus in der Stadt fahren und dann, statt runterzuspringen, feststellen, dass da oben gerade ein neues Luxusrestaurant aufgemacht hat, in das sie von ihrem Freund unbedingt noch einmal ausgeführt werden wollen, bevor sie dem Ganzen ein Ende setzen - was dann aber gar nicht mehr nötig ist, weil sie dahinterkommen, dass sie eigentlich ziemlich glücklich sind.)
Klar, all das stimmt. Aber ich wollte es in der Situation gestern Abend nun einmal nicht darauf ankommen lassen. Weil man es nie wissen kann. Vielleicht meinte sie es ja doch ernst. Und ich hatte nun einmal nicht vor, in dieser wunderbaren Nacht Zeuge davon zu werden, dass eine Frau sich etwas antut.
Ich ließ meine Schuhe, die ich in der Hand hielt, in den Sand fallen und watete kurz entschlossen durch die Wellen zu ihr hinaus. Und zwar langsam und so leise wie möglich. Ich wollte ja auf keinen Fall eine Panikreaktion bei ihr auslösen.
Um also möglichst beruhigend auf sie einzuwirken, gab es eigentlich nur eine Möglichkeit. Ich trat direkt hinter sie und legte einfach meine Arme um
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