Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
›Die Geisel von Maghrabi‹ eine bekannte Persönlichkeit, und ihre Bekanntschaft mit Catherine Le Gendre machte es noch schwieriger, an sie heranzukommen.
»Übrigens wohnt Laurence bei ihr – und damit ist wohl schon alles gesagt.« Sie hatte in ihrem Notizbuch geblättert und dann gesagt: »Ja, hier steht's: Adresse und Telefonnummer.«
Beim Stand der Dinge hielt die Italienerin allerdings einen Besuch dort für verfrüht. Was könnte man von der ›Dottoressa‹ denn schon erfahren, was man nicht bereits wisse? Wenn sie so unschuldig sei, wie es wirke, würde sie nichts zu sagen haben – wäre sie aber irgendwie in die Machenschaften der Sekte verwickelt, würde sie nichts sagen wollen.
Kiersten beugte sich diesen Einwänden und entschloss sich, ihr Vorhaben bis nach der Interpol-Konferenz zurückzustellen. Sie wür-de versuchen, ihre französischen Kollegen privat zu treffen und sie um vertrauliche Unterstützung und eine diskrete Überwachung der führenden Mitarbeiterin von Harmonices Mundi bitten.
»Immerhin haben Sie sie dort ja auch im Auge behalten«, meinte sie zu Lydia.
»Aber ja! Wir sind sogar nahezu Freundinnen geworden.«
»Nahezu?«
»Sie hat mir vertraut, und ich habe sie angelogen. Man kann nicht gemeinsam marschieren, wenn der eine läuft und der andere hum-pelt!«
Kiersten trug sich Anschrift und Telefonnummer, unter der Laurence Descombes zu erreichen war, in ihr Adressenverzeichnis ein und dachte dabei: »Eigentlich schade, ich hätte sie vielleicht doch noch heute Abend anrufen sollen. Aber es wäre unvernünftig – ich könnte alles gefährden!«
Sie klappte das Verzeichnis zu, aber nur, um es kurz darauf erneut zu öffnen und nach dem Telefonhörer zu greifen. Seit wann 261
ließ sie sich von plötzlichen Impulsen steuern? In ihren Privatange-legenheiten mochte das ja noch angehen. Aber beruflich? Das widersprach eigentlich all ihren bisherigen Prinzipien …
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15. KAPITEL
aurence hatte sich sofort nach ihrer Rückkehr nach Paris ent-Lschlossen umzuziehen, da sie die Gastfreundschaft der Beckers zunehmend als Belastung empfand. Sie wusste noch nicht, wo sie wohnen würde – aber das war nicht wichtig: Ein kleines, ruhiges Hotel würde ihr völlig genügen, ja sogar ausgesprochen gefallen. Sie fuhr am frühen Nachmittag in die Wohnung in der Avenue Bosquet in der Gewissheit, dort niemanden anzutreffen.
Aber die Staransagerin des Zweiten Französischen Fernsehens lag dort im Wohnzimmer auf dem Sofa ausgestreckt, im Morgenrock und in einem beklagenswerten Zustand. Man hatte sie Anfang der Woche bewusstlos ins Krankenhaus einliefern müssen, um ihr dort äußerst gründlich den Magen auszupumpen. Eine Krankenschwester von imposanter Statur leistete ihr seither Gesellschaft.
Nachdem sie mit drei Sätzen und vier Seufzern Laurence ihr Beileid zum Tode ihres Vaters ausgesprochen hatte, schilderte Catherine ihr ausführlich ihre eigenen Schicksalsschläge. Als sie dann erfuhr, dass ›ihre einzige wahre Freundin‹ sie verlassen wollte, bekam sie einen Anfall hysterischer Angst und flehte sie an, doch wenigstens noch für ein paar Tage zu bleiben. Selbst ihre nur schweigende Anwesenheit würde ihr helfen, wieder auf die Beine zu 263
kommen.
Laurence gab nach, doch noch vor dem Ende des Tages hatte sie hinreichend Anlass, dies zu bedauern.
Catherines Egozentrik nahm in einer solchen Depressionsphase ein unglaubliches Ausmaß an. Wo immer sie sich befand, sorgte sie für mächtigen Wirbel um ihre Person, der jede Gemütlichkeit, jede andere Unterhaltung und insbesondere jede Ruhe störte. Mit zerstörerischer Leidenschaft meinte sie, alle anderen in ihre Ängste ein-beziehen zu müssen. Im Schiffbruch ihrer Existenz betrachtete sie jeden in ihrer Nähe als Rettungsring. Aber wie immer der oder die Betreffende auch beschaffen sein mochte, sie zog sie unwiderstehlich mit sich auf den Grund wie in einem vernichtenden Strudel.
Geradezu hellseherisch beherrschte sie alle Mechanismen zur Auslösung von Schuldgefühlen: Stets fand sie das richtige Wort, den treffenden Blick, den passenden Seufzer, um das schlechte Gewissen jener zu wecken, die sich, erschöpft oder entnervt, versucht fühlten, ihr zu entrinnen, um wieder Luft schöpfen zu können.
Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, Fjodor Gregorowitsch Syssojew zu konsultieren. Wenn es ihm gelungen war, eine derart verstörte Person wie Laurence aus ihrem Tief zu holen, müsse es doch für ihn ein Leichtes sein, einen so
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