Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
sagte Lydia, die schon wieder zurück war.
Sie legte Kiersten einige Fotos vor und gab ihr sogleich die Erläuterungen dazu. Das hier war Frau Dr. Descombes am Flughafen von Valletta, hier nochmals an der Anlegestelle von Mgarr. Der Mann vor dem Lieferwagen war Jean-Louis Becker, rechte Hand Miguel D'Altamirandas. Hier, das hätte vorher kommen müssen, auf der Fähre zwischen den Inseln – und da, vor einem azurblauen Himmel, Laurence Descombes und Lydia in angeregter Unterhaltung.
»Sie kennen sich also!«
»Auf der Aufnahme da vielleicht mal gerade zwei Stunden. Sie 253
hält mich für Dora, die Tante der Kleinen da – hier sind wir alle drei. Jetzt schauen Sie sich das mal an – dieses großgeblümte Kleid und die flachen Schuhe, wie sehe ich da bloß aus!«
Sie lachte amüsiert auf, und Kiersten stellte befriedigt fest, dass die Italienerin auch über sich selbst lachen konnte. Sie entschloss sich nun endlich, ihre Tasche zu öffnen.
»Jetzt bin ich an der Reihe!«
Sie holte das Foto eines Mädchens heraus, das vor einer gekalkten Wand stand. Das schmal geschnittene Kleid aus schwarzem, glitzerndem Stoff schlotterte um den mageren Körper. Um ihren Hals lag ein breiter Ledergürtel, ihre resignierten Augen blickten ins Objektiv, ohne es wahrzunehmen.
Lydia riss die Aufnahme mit einem raschen Griff an sich und nahm wieder auf dem Sofa Platz. Ihr hübsches Gesicht hatte sich verdüstert, sie atmete schwer.
»Wo haben Sie das gefunden? Und wann?«
»In den Sachen von Farik Kemal, vor vier Tagen.«
»Sollte sie noch leben?«, sagte Lydia ungläubig. »Nein, das kann doch fast nicht sein! Sie hatten keine Wahl, weil sie für El Guía viel zu gefährlich war. Diese Ungeheuer!«
»Wer ist sie? Und was hat sie mit Ihnen zu schaffen?«
Lydia hob die Hand, um einen kleinen Aufschub bittend. Sie musste noch um die rechten Worte ringen. Sie blickte zum Fenster hinaus und schien dort in einem kleinen Stück blauen Himmels zwischen Mansarden und Kaminen Ermutigung zu suchen. Schließ-
lich machte sie einen tiefen Atemzug und warf erneut einen langen Blick auf das Bild.
»Sie heißt Gabriella. Sie war … wie sagt man noch für einen Wurm, um die Fische anzulocken?«
»Ein Köder. Und diese Dr. Descombes war in die Sache verwickelt?«
»Nein, sie hatte nichts damit zu tun. Ich weiß bis heute nicht 254
recht, warum sie nach Xaghra kam. Sie ist keine Mirandistin, zumindest war sie zu diesem Zeitpunkt noch keine. Sie kannte diesen Becker von früher, aus Farghestan. Er war dort ihr Geliebter gewesen, und vielleicht war sie gekommen, um dieses Verhältnis wieder aufleben zu lassen. Aber er war daran nicht im Geringsten interessiert, das war unübersehbar.«
»Ich verstehe. Und die Kleine sollte ein Köder sein – aber wofür oder für wen?«
Ein tiefer Schatten überzog Lydias Gesicht.
»Für El Guía. Man wusste, dass er …«
»El Guía? Ach ja, jetzt erinnere ich mich, irgendwo gelesen zu haben …«
»El Guía Supremo, Höchster Führer, wird Miguel D'Altamiranda von seinen Anhängern genannt. Er ist ein Phänomen, das man nur in seiner Nähe richtig begreifen kann. Wenn Laurence nicht überstürzt hätte abreisen müssen wegen des Herzinfarkts ihres Vaters, hätte sie sich wohl inzwischen die Augenbrauen abrasieren lassen.«
»D'Altamiranda hat also eine Schwäche für kleine Mädchen, wenn ich recht verstehe?«
»Zu kleine auch wieder nicht – wenn sie gerade erblühen, wie man wohl sagt. Kleine Jungs mag er lieber etwas jünger.«
»Muss ich das so verstehen, dass dieses kleine Mädchen dazu benutzt wurde, ihn zu kompromittieren?«
»So ein ganz kleines Mädchen ist man mit dreizehn auch wieder nicht«, verteidigte sich Lydia. »Jedenfalls war sie schon seit sechs Monaten in einem Haus …«
»Einem Haus? Meinen Sie damit…«
»Ja, ein Bordell – in Neapel. Sie war dort beileibe nicht die Einzige, wir hatten die freie Auswahl. Diese Reise nach Xaghra, das war ein bezahlter Urlaub für sie. Und bei ihrer Tante Dora hatte sie es doch jedenfalls besser als bei Mamma Sissa, oder?«
»Sie erwarten doch nicht im Ernst eine Antwort auf diese Frage!«, 255
entgegnete Kiersten abweisend. »Verzeihen Sie meine Offenheit, aber in Kanada wäre ein solches Vorgehen absolut … unannehmbar.
Zugegeben, wir gehen auch schon mal etwas großzügig mit den Vorschriften um, aber das Leben einer Halbwüchsigen aufs Spiel zu setzen, auch wenn sie schon dreizehn ist und der Prostitution nach-geht – das
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