Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
gelegt habe, Catherine …«
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Sie trat heran, um sie zum Abschied zu umarmen, doch Catherine (sie trug ein graues Kostüm und Schmuck und hatte sich sorgfältigst zurechtgemacht) hinderte sie daran.
»Nicht so schnell, meine Liebe! Diese Dame ist eigens aus Amerika gekommen, um mit dir zu reden. Da kannst du dich doch nicht einfach dünn machen!«
Laurence glaubte im Blick der Unbekannten neben Neugier vielleicht auch ein wenig Misstrauen wahrzunehmen. Die lockeren, sei-digen Locken ihres kastanienbraunen Haars milderten einen gewissen Anstrich des Militärischen in ihrer Haltung.
»Ich bin Kiersten MacMil an. Ihre Freundin übertreibt ein wenig: Ich wollte einen beruflichen Besuch hier in Paris nutzen, um Sie persönlich kennen zu lernen.«
»Ich habe mich schon gefragt, was du getan haben könntest, um das Interesse der Königlich Kanadischen Polizei auf dich zu lenken.
Ja, die Dame ist Inspektor, ich konnte es auch kaum glauben. Wir haben ein wenig geplaudert, während wir auf dich warteten, und sie hat mir faszinierende Dinge erzählt. Man wirft ja den Franzosen Sexismus vor, aber was Aufstiegschancen für Frauen betrifft, scheinen wir doch nicht ganz so schlecht dazustehen!«
Catherine sprach lebhaft, ja aufgekratzt. Laurence beobachtete sie ungläubig. War das die gleiche Person, die noch beim Frühstück so leidend und verbittert gewesen war? Sie musste sich mit irgendetwas aufgeputscht haben, und sei es nur mit Alkohol. »O Gott, was mag sie dieser Frau da alles über mich erzählt haben!«, dachte sie.
»Sie hätten vorher anrufen sollen!«, sagte sie zu Kiersten und wandte sich zur Tür. »Ich habe im Augenblick beim besten Willen keine Zeit. Tut mir schrecklich Leid.«
»Aber sie hat doch angerufen«, versicherte Catherine. »Ich habe ihr gesagt, dass sie hier auf dich warten könne. Versetz dich doch mal in meine Lage: Ich konnte ihr nicht einmal sagen, wo du ab jetzt zu erreichen sein könntest!«
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»Kann ich Sie nicht wenigstens nach unten begleiten, um Ihnen dabei den Grund für meinen Besuch zu nennen?«, fragte Kiersten.
»Es handelt sich um eine wirklich dringende Angelegenheit, sonst hätte ich doch gar nicht gewagt…«
Sie folgte Laurence in den Flur hinaus und griff dort rasch nach deren Koffer. Die Dame des Hauses hatte sich angeschlossen in der unverkennbaren Absicht, sie zu begleiten. Nachdem sie ins Treppenhaus getreten war, sagte Kiersten bestimmt zu ihr:
»Ich muss mit Frau Dr. Descombes unter vier Augen sprechen –
es handelt sich um eine vertrauliche Angelegenheit … Umso dankbarer bin ich Ihnen, dass Sie dieses Gespräch ermöglicht haben.«
Catherine tat, als hätte sie größtes Verständnis dafür. In Wirklichkeit war sie stocksauer, dass sie gerade jetzt abgeschoben wurde, da es wirklich interessant zu werden versprach. Sie umarmte Laurence nur flüchtig und ohne jede Herzlichkeit, lud deutlich formell Kiersten ein, zur Fortsetzung der ›hochinteressanten Unterhaltung‹ wie-derzukommen, und schloss die schwere Tür mit etwas mehr Nach-druck, als eigentlich nötig gewesen wäre.
Sie fuhren schweigend hinunter; die kleine Kabine des Aufzugs und die Gepäckstücke zwischen den Beinen waren einer Unterhaltung nicht gerade förderlich. Laurence spürte den Atem der Fremden in ihrem Nacken, und auch ihren Blick. »Sie macht sich Gedanken über mich. Aber warum wirkt sie so feindselig? Oder bilde ich mir das nur ein, und wovor habe ich Angst?«
Ein Taxi wartete vor dem Gebäude. Ob sie Catherine wohl von oben vom Fenster im kleinen Salon aus beobachtete? Es war sehr wahrscheinlich.
»Würde es Sie sehr stören, wenn ich mitfahre? Anschließend könnte mich das Taxi gleich in mein Hotel bringen«, fragte Kiersten.
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»Ich würde lieber allein fahren. Sie haben von einer dringenden Angelegenheit gesprochen, aber ich weiß noch immer nicht, worum es dabei geht…«
»Um Ihren Aufenthalt in Malta. Und jemanden, den Sie dort getroffen haben …«
Laurence zuckte zusammen, öffnete die hintere Tür des Taxis und forderte, nach kurzem Zögern, Kiersten mit einer Handbewegung auf, vor ihr einzusteigen. Sie setzte sich neben diese und nannte dann unüberlegt dem Fahrer ihre Adresse; das bedauerte sie sogleich, doch es war schon zu spät.
Der Wagen fuhr an, und Kiersten öffnete ihr Aktenköfferchen. Es schien ihr nicht das Mindeste auszumachen, sich derart aufgedrängt zu haben. »Eigenartige Frau«, fand Laurence. »Aber eigentlich nicht unangenehm
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