Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
wandte sich vom Spiegel ab.
Ihre Erklärung befriedigte sie nur halbwegs. Aber sie hatte jetzt keine Zeit für weitere Seelenerforschung, nicht heute bitte! Tut mir Leid, Teddybär!
Lydia Frescobaldi eröffnete die Sitzung der Interpol. Sie machte das mit leichter Hand, obwohl ihr durchaus bewusst war, dass einige der Herren hier wohl gleichermaßen an ihrer Jugend wie an ihrer Art Anstoß nahmen. Ganz abgesehen davon, dass sie einen Rock trug. Einer zeigte sich sogar erstaunt darüber, dass Luigi Sanguinetti, der seit einer Woche im Krankenhaus lag, nicht krankheits-halber die Sitzung verschoben habe …
Lydia ließ sich nicht die Butter vom Brot nehmen, zumal sie auf einen solchen Empfang vorbereitet war. Einleitend fasste sie zusammen, dass der Zweck dieser Zusammenkunft sei, zu gemeinsamen Beschlüssen in der Frage Snuffs zu kommen, und den von Casus Belli unterbreiteten Vorschlag zu erörtern, eine Koordinationsstruk-tur für diesen Bereich unter den Interpol-Mitgliedern zu schaffen.
Dann bat sie die versammelten Kollegen um ihre Diskussionsbeiträ-
ge.
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Der Vertreter Frankreichs war Bil ard, Präsident der Landespolizei-direktion. Offenbar angeregt durch seinen Namen, schob er seine Vorschläge wie Billardkugeln (obwohl er sich dabei, freilich ohne sie anzuschauen, an die hübsche Italienerin wandte) anderen Teilnehmern zu. So zum Beispiel Maxime Knokkendaal, dem Vertreter der Niederlande, kahlköpfig und sorgfältig manikürt, dessen Neu-tralität die Gewähr für einen sanften Abpraller zu bieten schien.
»Auch wieder so ein Bürokrat«, fand Kiersten. »Ob er wohl wenigstens weiß, dass mehrere der Snuffs aus Kemals Katalog in Amsterdam gedreht wurden?«
Marc Hustin, Generalstaatsanwalt im belgischen Lüttich, hörte zwar sehr aufmerksam zu, erwies sich aber als äußerst schweigsam.
Er hatte eine wesentliche Rolle im Anfangsstadium der Ermittlungen gegen den Kinderschänder Dutroux gespielt. Es gab Gerüchte, wonach er gerade wegen seiner erfolgreichen Arbeit aufs Abstellgleis geschoben worden sei – insbesondere weil er die Konsumenten des audiovisuellen Materials, das dieser Unhold produziert hatte, feststellen konnte.
Carlos Carrero war Chef der Sittenpolizei von Barcelona, Len Shoemaker Vertreter des FBI. Sie waren Männer von der Front, Pragmatiker und besonders besorgt über die blühenden Aktivitäten der internationalen Netze für Kinderprostitution. Sie machten den Eindruck, als fragten sie sich, was sie eigentlich hier in Paris sollten.
Es war schwierig einzuschätzen, in welche Schale sie bei einer Abstimmung ihr Gewicht werfen würden. Der rothaarige Kenneth Sabbagh von Scotland Yard sprach frisch von der Leber weg und ließ sich alsbald als einziger zuverlässiger Verbündeter von Lydia und Kiersten erkennen. Ein gemeinsames Vorgehen auf internationaler Ebene sei keine Angelegenheit politischer Abwägungen, meinte er, sondern – wenn er einmal den ›altmodischen‹ Begriff verwenden dürfe – eine Frage der moralischen Verpflichtung. Im gleichen Atemzug beklagte er die Lückenhaftigkeit der bestehenden Gesetze zur 286
Bekämpfung des Handels mit dieser neuen Art von ›Drogen‹.
»Wenn Sie glauben, dass man nichts unternehmen könne, warum sind Sie dann überhaupt hier?«, fragte der Franzose.
»Weil es meine Pflicht ist! Und wenn Sie glauben, man könne etwas tun, warum werfen Sie uns dann Knüppel zwischen die Beine?«
Seine provozierende Frage führte, gerade weil sie ins Schwarze getroffen hatte, zu einem heftigen Wortwechsel. Knokkendaal warf sich dazwischen, um die Wogen zu glätten. Er betonte, dass das Prinzip der Zusammenarbeit zwischen den Polizeikräften zwar in keiner Weise in Frage zu stellen sei, dass man aber dennoch auf die unterschiedliche Gesetzeslage der verschiedenen Staaten Rücksicht nehmen müsse. Carrero bemühte den französischen Philosophen Montaigne, um darzulegen, dass die Auffassungen von Gewalt in verschiedenen Ländern genauso unterschiedlich seien wie die von Pornografie oder ›guten Sitten‹. Als französischer Patriot sah sich Billard dadurch natürlich gezwungen, seine Bildung durch ein weiteres Zitat aus den Essais seines großen Landsmannes zu beweisen.
Sabbagh schaute bei diesen Ausführungen gelangweilt auf seine Uhr und hielt sie provokativ ans Ohr, um zu prüfen, ob sie nicht vielleicht stehen geblieben sei…
Kiersten verfolgte diese Scharmützel mit einem Gefühl der Unwirklichkeit. Diese Leute wussten doch schließlich,
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