Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
zurückerwartet, und da sei es doch ganz nützlich, Kontakte zu schaffen und Verbindungen zu knüpfen … Casus Belli könne ohnehin nur verdeckt arbeiten, der Einsatz sei hoch und die Gegner mächtig … Und was diesen Sabbagh betreffe: Der entbehre zwar mit seiner Illusionslosigkeit und Zähigkeit nicht eines gewissen Charmes, aber für amouröse Abenteuer bevorzuge sie eher sanftere Typen.
Das überraschte Kiersten nun allerdings nicht.
In dem Taxi, das nicht weiterkam, saß Laurence und war gerade dabei, den Fahrer zu entlohnen, als sie Kiersten vorbeigehen sah – in Begleitung einer eleganten jungen Frau. Sie brauchte einige Sekunden, um sich zu fragen: War das nicht Dora? Aber nein, das konnte doch nicht sein: dieses eng taillierte Kostüm, diese Frisur, dieser Gang … Und doch, sie musste es sein!
Sie sprang aus dem Wagen, ohne sich weiter um den Fahrer zu 292
kümmern, der sein Geld zählte und dabei schimpfte auf die »ständig breiter werdenden Lastwagen, die immer da stehen, wo man sie nicht brauchen kann« und auf die »Bullen, die nie da sind, wenn man sie mal brauchen könnte«. Laurence ging in der Gegenrichtung des Hotels davon, blieb dann aber an der Einmündung der Rue Buci stehen. Warum lief sie davon? Sie hatte sich schließlich nichts vorzuwerfen!
Gestern hatte sie gefühlt, dass Kiersten sie bezüglich dieser ›Tante Dora‹ anlog.
»Das hat mich aber nicht davon abgehalten, sie heute Morgen anzurufen und ihr meine Hilfe anzubieten. Sollte das nur daran gelegen haben, dass Fjodor Gregorowitsch mich dazu ermunterte?
Nein, das glaube ich eigentlich nicht. Es liegt wohl eher daran, dass ich die Lüge an sich nicht mehr für verwerflich halte, genauso wenig wie die Verstellung und den Hochmut. Alles hängt von den Umständen ab und davon, worum es geht. Aber wie ist das möglich? Wie komme ich bloß dazu, so zu denken?« Sie kehrte entschlossen um.
Kiersten und Lydia hatten in der kleinen Empfangshalle des ›Grand Hôtel de l'Univers‹ gleich neben dem Eingang Platz genommen.
Laurence Descombes hatte zugesagt, um sechs Uhr hierher zu kommen – und es war jetzt gleich sechs.
»Sie halten das wirklich für eine gute Idee?«
Lydia wirkte plötzlich beunruhigt und unsicher. Vor der Interpol-Sitzung hatte Kiersten ihr von ihrem Besuch bei Catherine Le Gendre, dem Gespräch im Taxi und der Ankunft bei diesem seltsamen Fjodor Gregorowitsch berichtet. »Sie hatten übrigens Recht«, hatte sie Lydia bestätigt. »Es scheint tatsächlich so, als habe sich Laurence nichts vorzuwerfen.« Verschwiegen hatte sie ihr allerdings, wie sie zu dieser Überzeugung gelangt war: Dann hätte sie ihr nämlich 293
die Lektüre des ›entliehenen‹ Tagebuchs gestehen müssen. Und sie hätte obendrein einräumen müssen, dass es für ihr Vertrauen keinen einzig greifbaren Beweis gab, nicht eine handfeste Tatsache.
Sie hatte ihr vorgeschlagen, hier gemeinsam mit ihr Laurence zu treffen. »Sie hat ein Recht darauf, die Wahrheit über Gabriella zu erfahren!«, hatte sie gesagt. »Und auch über Ihre Rolle!« Lydia hatte mit einer Antwort gezögert, und jetzt in diesem Augenblick bedauerte sie, zugesagt zu haben.
»Da kommt sie«, sagte Kiersten und stand auf.
Sie ging Laurence entgegen und umarmte sie spontan. Sie gab sich dabei große Mühe, ganz ungezwungen zu erscheinen.
»Ich habe jemanden mitgebracht«, flüsterte sie ihr ins Ohr.
Lydia erhob sich ebenfalls und schritt auf die Besucherin zu mit der Miene eines kleinen Mädchens, das gut Wetter machen will.
Laurence trat einen Schritt zurück, um sich ihrer Umarmung zu entziehen, reichte ihr aber die Hand.
»Ich bin Lydia Frescobaldi. Sie begreifen schon, wie ich sehen kann: Tante Dora gibt es nicht.«
»Für mich gab es sie jedenfalls. Unter einer Maske ist man stets ein anderer Mensch … Aber ich sehe jetzt, wer die Richtige ist. Und Gabriella? War die auch nur eine Täuschung?«
»Täuschung?«, fragte Lydia, die den Ausdruck nicht auf Anhieb zu verstehen schien.
»Ein Köder, ja«, gab Kiersten an ihrer Stelle zu. »Oh, geht es Ihnen nicht gut?«
»Lassen Sie nur, es ist nichts weiter«, versicherte Laurence, setzte sich jedoch rasch, da ihr die Beine offensichtlich den Dienst zu versagen drohten.
Lydia und Kiersten wechselten einen bestürzten Blick und nahmen dann ebenfalls Platz.
»Ein Köder … für ihn?«
»Ja, für D'Altamiranda«, antwortete Kiersten. »Ich habe genauso 294
reagiert…«
Lydia, der eine heftige Röte in die
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