Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
zur Unterdrückung zu diskutieren.
Niemand ließ sich von der gespielten Arglosigkeit Lydias täuschen. Man verstand ihr Vorgehen sofort als das, was es tatsächlich war: eine kaum verhüllte Erpressung. Die Sitzung, die man schon als abgeschlossen betrachtet hatte, begann nun erst richtig.
Kenneth Sabbagh bot den beiden Damen an, sie nach Hause zu fahren. Sein am Flughafen gemieteter Wagen war in unmittelbarer Nähe geparkt. Lydia beugte sich zu dem Strafzettel hinunter, der hinter den Scheibenwischer geklemmt war.
»Darf ich?«
»Aber gern!«
»Das tut mir gut!«, versicherte sie und riss ihn in kleine Fetzen.
Als sie im Wagen saßen, ließ sie ihrer Wut freien Lauf. Auf Italienisch zwar, aber Kiersten auf dem Rücksitz hatte keinerlei Mühe, sich die Übersetzung für die Ausdrücke vorzustellen, mit denen sie die Teilnehmer an ›dieser in den Arsch gegangenen Sauerei von einer Scheißsitzung‹ belegte. Über den Rückspiegel wechselte sie einen Blick des Einverständnisses mit dem neuen Freund Ken. Beide amüsierten sich über den Kontrast zwischen Lydias Verhalten während des Treffens (sanftes Schnurren und Samtpfötchen) und ihrem jetzigen Ausbruch: ausgestreckte Krallen und wildes Fauchen.
Sabbagh indessen zeigte unvermutete Seiten: Er fuhr schnel und aggressiv und kannte sich offensichtlich im Labyrinth der Pariser Straßen vorzüglich aus. Auch in dem, was er sagte, legte er sich keine Zurückhaltung mehr auf. Es erwies sich, dass er seit langem schon sowohl über die Snuffs als auch über die Universelle Vereinigungskirche weit mehr wusste, als er in Gegenwart der anderen Sitzungsteilnehmer hatte erkennen lassen.
»Sie gehen also der gleichen Spur nach«, hakte Kiersten fast etwas 290
verstimmt nach.
»Sanguinetti ist ein alter Bekannter von mir. Wir haben schon 1986 anlässlich des Anschlags auf die Maschine der British Airways in Fiumicino zusammengearbeitet…«
»Ach nein! Das hätte er mir ja nun wirklich sagen können!«, rief Lydia gereizt. »Er hat Ihnen also auch von dieser Großen Versammlung berichtet?«
»Ja, aber es wäre nicht nötig gewesen; wir sind schon seit sechs Monaten an der Sache dran.«
»Was Kanada betrifft, haben wir einige interessante Einsichten gewinnen können. Warum tun wir uns da nicht zusammen?«
»Austausch von Informationen?«, meinte der Engländer mit freud-losem Lächeln. »Das ist doch nicht Ihr Ernst! Wenn es um die Wahl zwischen einem bescheidenen Anteil am Erfolg und der möglichen Alleinschuld an einem Misserfolg geht, trifft die Polizei überall auf der Welt die gleiche Entscheidung.«
»Die Mirandisten sollen in London besonders zahlreich sein«, meinte Lydia, die angesichts der Wichtigkeit der Sache schon vergessen zu haben schien, dass sie eigentlich verärgert sein wollte.
»Werden Sie etwas unternehmen? Und was?«
»Was? Gute Frage. Es wurde noch keinerlei Strategie festgelegt, und es ist mir, offen gestanden, auch egal. Wenn diese Fanatiker sich mit Benzin übergießen und anzünden wollen, um ihre ›große kosmische Reise‹ anzutreten, was juckt das mich? Gute Reise! Das ist doch wie bei den Bandenkriegen: Ausmisten von innen heraus!«
»Aber Sie glauben doch nicht wirklich an das, was Sie da sagen!«
»Doch, ich zwinge mich dazu, damit ich keine Magengeschwüre bekomme! Ich mache keine Witze!«
Sabbagh nahm weiterhin kein Blatt vor den Mund und fluchte kräftig auf ›diese verdammten französischen Autofahrer‹. Seinen Ausführungen zufolge hatten die Schnüffler von Scotland Yard durchaus einiges herausbekommen. Das veranlasste Lydia dazu, 291
ihm ohne alle Umschweife eine Fortsetzung des Gesprächs in London vorzuschlagen. Wann? Warum denn nicht gleich morgen … Sie könnte ihn doch auf seinem Rückflug begleiten – natürlich nur, wenn er keine Einwände hätte. Er drehte den Kopf und schaute sie aufmerksam an. Aber sie schien das tatsächlich ernst zu meinen …
»Tun Sie mir bitte den Gefallen, Inspektor«, sagte Kiersten angespannt, »und schauen Sie auf die Straße!«
Ken setzte sie auf der Höhe der Rue Grégoire-de-Tours ab; etwas weiter vorn hupte wütend ein Taxi, weil ein Lastwagen, aus dem etwas entladen wurde, ihm die Durchfahrt versperrte. Die beiden schritten auf Kierstens Hotel zu.
»Sie wollen wirklich morgen nach London fliegen?«, fragte die Kanadierin. »Unser rothaariger Freund wird sich da sicher bestimmte Hoffnungen machen …«
Lydia lächelte vergnügt. Sie werde in Rom nicht vor Donnerstag
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