Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
die Avenue Bosquet. Sie überschlug die Zeitverschiebung und sagte sich, wenn Julien um diese Stunde im Büro sei, müsse es ernst sein. Also wählte sie sofort seine Nummer und nahm sich nicht einmal die Zeit, sich vorher die Schuhe auszuziehen.
Es war tatsächlich ernst. Man hatte Farik Kemal am Morgen leblos in seinem Krankenhausbett gefunden, dem ersten Eindruck ge-mäß offenbar vergiftet; ein Autopsiebericht lag noch nicht vor. Man hatte jedoch bereits feststellen können, dass seiner Infusionsflüssigkeit etwas zugesetzt worden war – eine starke Morphiumdosis höchstwahrscheinlich.
Kiersten meinte dazu, dass der Türke einen so sanften Tod wohl kaum verdient habe. Aber diese bissige Bemerkung war nur ein Ventil für die Erbitterung, die diese neue Hiobsbotschaft in ihr auslöste.
»Lou Russel würde sich wohl am liebsten in ein Mauseloch ver-kriechen. Bei unserem letzten Gespräch hat er mir noch versichert, dass man Kemal rund um die Uhr bewachen würde.«
»Das wurde auch eingehalten«, versicherte Julien. »Ich bin selbst auf einen Sprung im Krankenhaus vorbeigefahren und habe mich vergewissert. Während der Nacht haben nur zwei Ärzte und die Nachtschwestern das Zimmer betreten, insgesamt fünf Personen.
Man hat sie inzwischen alle verhört.«
»Sucht nach einer Verbindung zu den Mirandisten! Dann werdet ihr euren Schuldigen finden!«
»Diesbezüglich war bisher nichts herauszubekommen. Aber etwas beschäftigt mich erheblich: Die Leute, die dahinter stecken, sind damit doch ein gewaltiges Risiko eingegangen. Sie hätten es doch eigentlich unbedingt vermeiden müssen, die Aufmerksamkeit auf 277
Kemal zu lenken. Der Überfall im Hotel wurde in den Zeitungen mit fünf Zeilen unter ›Vermischtes‹ abgetan. Aber ein Mord, und unter solchen Umständen! Darauf werden sich die Medien richtig genüsslich stürzen.«
»Der Türke war vielleicht lebendig eine noch größere Gefahr als tot… Hat man noch etwas aus ihm herausbekommen?«
»Die Ärzte hatten einer offiziellen Vernehmung am heutigen Vormittag zugestimmt… Man ist uns gerade noch zuvorgekommen.«
»Das kann man wohl sagen! Und der Inhalt seines Köfferchens?«
»Damit kommen wir voran. Sie hatten übrigens Recht: Dieser Thierry Bugeaud ist alles andere als ein Langweiler! Ich schicke Ihnen via Fax einen Vorbericht an die Botschaft. Sie werden überrascht sein, die Ernte ist noch reicher, als wir hoffen konnten. Und wie steht's bei Ihnen?«
Sie antwortete ihm, dass auch sie gut vorankäme. Sie berichtete ihm von ihrem Treffen mit Lydia, überging jedoch ihr Gespräch mit Laurence Descombes, weil sie nicht recht wusste, wie sie das kurz zusammenfassen sollte.
Als Laurence in den zweiten Stock zu diesem merkwürdigen Psychiater hinaufgerannt war, war Kiersten in der Eingangshalle allein geblieben. Die Ledertasche stand noch geöffnet da, und sie konnte darin neben einer Brieftasche und Medikamentenfläschchen (was behandelte man wohl damit?) ein kleines, in dunkelrotes Leder gebundenes Buch mit einer Art von Verschluss erkennen. Wahrscheinlich ein Notizbuch – oder gar, noch besser, ein Tagebuch?
Sie hatte es an sich genommen und in ihre Aktentasche gesteckt.
Niemals hätte sie so etwas in Kanada getan! Wenn sie daran dachte, dass zu gleicher Zeit dieser Gregorowitsch oben Laurence versichert hatte, man könnte ihr trauen …
Sie hatte im Taxi, das sie in die Rue Grégoire-de-Tours zurück-278
brachte, ihr Gewissen erforscht. Bei der GRC konnte sie über einen effektiven Apparat zu ihrer Unterstützung verfügen. Hier in Europa dagegen fühlte sie sich wehrlos und allein auf sich gestellt. Jede Bitte um Zusammenarbeit erforderte bürokratische und diplomatische Umwege. Die Geschichte mit diesem Sonnentempel-Orden hatte das ja gezeigt: Die Zusammenarbeit zwischen der Polizei von Quebec und den in der Schweiz und in Frankreich für die Ermittlungen zuständigen Organen hatte sich als mühsam, ineffizient und schleppend erwiesen: Kompetenzrangeleien, Zurückhaltung von Informationen usw. Sie fand noch einen weiteren Entschuldigungs-grund: eine offenbar drohende Katastrophe! Lydias Ausführungen über diese Große Versammlung bestätigten ihre Befürchtungen.
Gut, die Italiener hatten allen Grund, diese Sache zu dramatisieren, um damit von der Pleite bei ihrem geplanten Coup gegen Miguel D'Altamiranda abzulenken, bei dem sie sogar ein kleines Mädchen als Köder eingesetzt hatten. Aber es war keine Frage, dass die verschiedenen
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