Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
Informationen, die man im Laufe der letzten Wochen über diese Mirandisten zusammengetragen hatte, im Zusammenhang gesehen werden mussten und sich gegenseitig ergänzten. Die Sekte war ohne jeden Zweifel gefährlich und nicht zimperlich in der Wahl ihrer Mittel.
Es war tatsächlich ein Tagebuch; die Eintragungen, manchmal nur ein paar Zeilen lang, manchmal mehrere Seiten umfassend, waren datiert. Die erste stammte vom dritten Tag nach der Freilassung, die letzte vom Vorabend. Dazwischen gut hundert Blätter, beidseits beschrieben. Die Schrift war sauber und klar, der Stil schnörkellos und unumwunden.
Kiersten war zum Umfallen müde, streckte sich aber dennoch auf ihrem Bett aus und begann mit der Lektüre. Sie begriff bald, dass Laurence diese Zeilen nur für sich geschrieben hatte, für sich ganz al ein. Es waren die Ergebnisse ihres Hineinhorchens in sich selbst, die sie hier festgehalten hatte. Die äußeren Ereignisse hatte sie da-279
bei nur angedeutet, Namen, nicht sehr zahlreich, nur mit ihren An-fangsbuchstaben vermerkt. Nach etwa einem Dutzend Seiten musste Kiersten innehalten. Sie wurde von ihren Gefühlen überwältigt.
Ihre Wangen brannten, und zwar vor Beschämung. Sie konnte sich nicht länger hinter beruflicher Verpflichtung verstecken: Es konnte schon jetzt keine Frage mehr sein, dass sie hier nichts finden würde, was sie in ihrer Untersuchung weiterbrächte. Sie fühlte sich einer Art von Vergewaltigung schuldig. Thierry, ja, der hatte immerhin noch verständliche Gründe dafür, ihre persönlichen Notizen zu lesen, die sie ihrem Computer anvertraut hatte. Er hatte sie kennen lernen wol en, um sie leichter verführen zu können. Was aber konnte jetzt sie als Entschuldigung dafür anführen, dass sie sich gegen-
über Laurence jenes Vergehens schuldig machte, das einst Mutter Maria von den Sieben Schmerzen ›die Sünde des Eindringens‹ genannt hatte?
Doch es war weniger das schlechte Gewissen, das ihr Herz so heftig schlagen ließ, sondern die Entdeckung, dass in gewisser Weise diese Seiten wie ein Spiegel ihres eigenen Ichs waren, dass sie die eigenen Züge in diesem inneren Bild einer fremden Frau erkannte.
Wie sie das aufwühlte! Denn diese Dr. Laurence Descombes schrieb sozusagen mit dem Skalpell in der Hand, am offenen Herzen ope-rierend, zergliederte ihre Gefühle und erforschte sich selbst ohne Scham und ohne Rücksichtnahme.
Kiersten ließ das Tagebuch sinken und sagte sich, dass man einen Weg finden müsse, es so rasch wie möglich Laurence wieder zu-rückzugeben. Le Bouyonnec, der Vertrauensmann der GRC an der kanadischen Botschaft, musste sich mit einem Taxifahrer in Verbindung setzen. Der müsste das Buch in diesem Haus in Passy ablie-fern und vorgeben, man habe es in dem Wagen gefunden, der am Abend vorher zwei junge Frauen hierher gefahren habe.
»Nicht schlecht«, fand sie, zur Decke schauend. »Mal sehen, ob mir morgen früh noch etwas Besseres einfällt.« Dann schloss sie 280
die Augen, um Ordnung in ihre Gedanken zu bringen, schlief jedoch sofort ein.
Gegen vier Uhr morgens wachte sie wieder auf; die Nachttischlampe brannte noch. Sie nahm, von einer wahren Gier erfüllt, die Lektüre wieder auf. Nichts mehr von Zögern oder Bedenken, keinerlei Frage danach, warum sie ihre Meinung geändert hatte. Sie musste das nun einfach wissen!
Erinnerungen, Ereignisse und Begegnungen waren die Quellen für eine penible Selbsterforschung, betrieben mit einer Beharrlichkeit, die schon an Besessenheit grenzte. War ihr Platz überhaupt in der Wirklichkeit, wenn die Realität die völlige Verneinung all dessen war, woran sie geglaubt hatte? Und wenn hier ihr Platz war, welche Rolle war ihr bestimmt, wenn ›jedes Handeln eitel‹ ist? Sie ging ausführlich auf ein Phänomen ein, das ihr ganz offensichtlich schwer zu schaffen machte und das sie als die Wahrnehmung von Rissen bezeichnete. Waren das nun echte Halluzinationen, fragte sich Kiersten, oder war es eine Art von Metapher?
Keinerlei Zweideutigkeit dagegen fand sich bei der inneren Bilanz, die sie beim Verlassen des ›Klosters‹ aufstellte: »Hin- und Rückreise zum Ende der Nacht. Ich habe den Abgrund des Bösen geschaut, jegliches Grauen durchlebt, bin Zeuge des Schlimmsten geworden. Zu-rückgekehrt aus der Hölle von Maghrabi bin ich mit einer Gewissheit, einer einzigen: Die Liebe ist die einzige Rettung. Die Liebe menschlicher Wesen zu ihresgleichen – eine besudelte Floskel und doch eine universelle Wahrheit. Nichts
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