Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
ihre Reife sei. Seiner Meinung nach hätten wohl die meisten Mädchen ihres Alters sich damit begnügt, ein paar Tage lang eine Schnute zu ziehen. Im Übrigen war es jetzt auch schon zu spät, ihre Meinung noch zu ändern: Der Fahrer stieg gerade ein. Der Bus fuhr los; es hatte aufgehört zu regnen. Patrick –
ja, der verstand sie! Gewissermaßen ein echter Freund, obwohl sie sich gar nicht persönlich kannten. Er hatte sie aus Toronto angerufen und ihr zu ihrem Gewinn gratuliert. Der sei alles andere als wahrscheinlich gewesen, hatte er ihr erklärt, da sie Tausende von Einsendungen erhalten hätten. Ihr ›Brief an die Menschenbrüder‹
würde im Mitteilungsblatt der Stiftung veröffentlicht, das in fünfzehn Sprachen erscheine! Sie hatten eine gute halbe Stunde lang miteinander telefoniert. Besonders schätzte sie an ihm, dass er keine Eile zu haben schien. Er hatte sie nach ihrer Meinung zu vielen Angelegenheiten gefragt, nicht nur in Bezug auf die Ausbildung. Nein, er nahm sie wirklich ernst!
Zehn Tage später hatte er nochmals angerufen und sie darauf aufmerksam gemacht, dass das Formular mit der elterlichen Zustimmung zu dieser Reise nach Malta noch nicht eingegangen sei; sie müsse befürchten, dass dadurch ihre Teilnahme gefährdet sei. Er hatte ihr seine Durchwahlnummer gegeben und ihr dazu gesagt, sie könne ihn darunter jederzeit anrufen, ohne dass ihr Kosten dadurch entstünden.
Heute Morgen, als sie allein im Haus war, hatte sie ihn dann angerufen. Am Anfang hatte sie seine Erklärungen kaum verstanden.
»Alle haben mich angelogen!«, hatte sie ihm dann gesagt. »Mein Vater, Acoona und insbesondere meine Mutter!« Man hatte sie in dem Glauben gelassen, dass hinsichtlich dieser Reise nach Malta 315
al es geregelt sei, in Wahrheit aber hatte man beschlossen, sie daran gar nicht teilnehmen zu lassen. Und das mit Begründungen, die weder Hand noch Fuß hatten! Aber das konnte man mit ihr nicht machen! Das war einfach zu ungerecht!
Patrick hatte ihr dringend ans Herz gelegt, nur ja nicht ihren Pass zu vergessen; sie brauchten ihn für die Ticketreservierung. Denn ihre Mutter würde sich bestimmt von ihr überzeugen lassen, da sei er ganz sicher. »Man sieht, dass Sie sie nicht kennen«, hatte Sandrine geantwortet. »Sie glauben gar nicht, wie stur die sein kann.«
Während der Autobus auf Ottawa zurollte, bedauerte sie diese Bemerkung. Sie sah sich noch am Schreibtisch ihres Vaters sitzen. Sie hatte aus seiner Hängeregistratur das Mäppchen ›Sandrine‹ herausgeholt und daraus ihren Pass entnommen. Unter den übrigen Sachen dort fand sie ein Bild, das sie als Zwölfjährige mit ihren Zahn-spangen zeigte – schrecklich! Ihre Zeugnisse, Geburtstagskarten, ihre ersten Kinderzeichnungen. Warum bewahrte ihr Vater diesen alten Kram auf? Es waren sogar Fotos aus der Zeit in Ottawa dabei, von denen ihn eines zusammen mit Kiersten zeigte. Sie hielten sich um die Taille gefasst, wie ein Liebespaar. »Dass ich da bin, ist immerhin ein Beweis dafür, dass sie sich geliebt haben«, fand Sandrine. »Zumindest anfangs.«
Am Busbahnhof in Ottawa trat mit schüchternem Lächeln eine junge Frau auf sie zu, die am Aufschlag ihres Jacketts neben einem Anti-Raucher-Sticker ein Namensschild mit der Aufschrift ›Mona-Lisa Peres, Regierung von Kanada‹ trug. Sie sei auf Bitten von Frau Inspektor MacMillan gekommen, um sie abzuholen.
Sandrine wollte zunächst gar nicht glauben, dass ihre Mutter nach Paris geflogen sei, ohne ihr etwas davon zu sagen. Ob das wohl ein Trick war, um sie zur Rückkehr nach Mont-Laurier zu veranlassen? »Nein, jetzt übertreibe ich aber«, sagte sie sich. »Meine Mutter mag manche Fehler haben, aber drücken tut sie sich nicht.«
Sie nahmen ein Taxi.
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Als sie vor dem mächtigen Gebäude des Obersten Gerichtshofs ankamen, kam Sandrine, noch stärker als bei ihrem letzten Besuch, erneut das hohe Ansehen und die Bedeutung ihres Großvaters zu Bewusstsein, die sie mit Stolz erfüllte. In der Eingangshalle musste sie einen Besucherschein ausfüllen. Ob der Aufsichtsbeamte wohl freundlicher gewesen wäre, wenn er gewusst hätte, mit wem er es hier zu tun hatte?
Als sie im fünften Stock aus dem Aufzug stiegen, trafen sie Luc Bastien, den persönlichen Referenten des Richters. Er betrachtete Sandrine und versicherte ihr, dass er sie kaum wiedererkannt hätte, so sei sie gewachsen. Er wusste nicht recht, ob er sie umarmen solle, überwand aber dann sein anfängliches Zögern. Er war
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