Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
denn? Aber nein … Meine Mutter hat also ja gesagt! Ich krieg mich nicht wieder ein!«
»Da, lies selbst!«
Sie reichte Sandrine das Blatt und fuhr an. Es stimmte alles, und in dem Fax stand außerdem, dass die Flugtickets schon bezahlt seien und am Alitalia-Schalter am Flughafen Dorval bereitlägen.
»Das heißt doch wohl nicht, dass wir heute schon losreisen?«, fragte Sandrine atemlos.
»Aber ja! Lies doch zu Ende! Deine Mutter hat es so eingerichtet, dass sie sich bei der Rückreise mit dir in Paris trifft. Dann macht ihr noch eine Woche gemeinsam Ferien, ehe ihr zusammen nach Kanada zurückfliegt. Was willst du noch mehr!«
»Aber nein, das ist toll, das ist unglaublich! Das muss ich unbedingt gleich meinem Vater sagen! Ich habe ihn zwar schon vom Gericht aus angerufen, aber …«
Mit einer Hand lenkend, holte Mona-Lisa mit der anderen ein Handy aus ihrer Tasche und wählte eine Nummer.
»Monsieur Bastien? Ja, ich bin es. Ich habe soeben eine Nachricht aus Toronto erhalten … Aha, Sie haben schon miteinander telefoniert deswegen … Ja … Ja, in Ordnung. Könnten Sie bitte auch veranlassen, dass man ihren Vater… Aha, ja, ich verstehe. Sie können sich auf mich verlassen!«
Sandrine fiel der etwas gestelzte Redestil Mona-Lisas auf. »Die will mir was vormachen und denkt wohl, ich hätte das vorhin nicht mitbekommen zwischen den beiden! Schon wieder eine, die mich für ein kleines Mädchen hält!«
Dennoch fand sie die Aussicht, von ihr auf dieser Reise begleitet zu werden, keineswegs unangenehm – und sogar beruhigend.
»Es ist nicht nötig, dass du in Mont-Laurier anrufst«, versicherte Mona-Lisa. »Die Sekretärin deines Großvaters wird das erledigen.
Ende gut, alles gut, kann man da nur sagen.«
Als das Auto auf den Queensway einbog, fragte Sandrine: 320
»Aber wohin fahren wir denn?«
»Na, zum Flugplatz natürlich! Wir haben keine Minute mehr zu verlieren! Ach ja, fast hätte ich es vergessen: Deine Mutter hat mir bestellen lassen, dass ich dir Geld vorstrecken möchte. Nach unserer Ankunft in Malta kaufen wir dir dann das, was du brauchst…«
»Ach, ich brauche doch gar nichts… Das heißt, wenn ich es mir recht überlege … Wie viel Geld denn?«
»Das hat sie nicht gesagt. Ich denke, dass du das selbst bestimmen kannst…«
Sandrine machte es sich auf ihrem Sitz bequem. Sie kam noch gar nicht nach; alles war so schnell gegangen. Eine Woge der Dankbarkeit ihrem Großvater gegenüber durchströmte sie. Wenn er sich nicht eingesetzt hätte, hätte es sich ihre Mutter bestimmt nicht anders überlegt. Patrick hatte also Recht gehabt mit seinem Optimismus.
»Wie gut, dass ich meinen Pass eingesteckt habe!«
»Richtig, jetzt hatte ich doch glatt vergessen, dich überhaupt danach zu fragen. Du bist sicher unter einem glücklichen Sternzeichen geboren. Skorpion, möchte ich fast wetten …«
»Genau! Wie haben Sie das erraten?«
»Erraten durchaus nicht. So etwas spürt man doch …«
Das Penfield-Wohnheim lag unmittelbar neben dem Riverside-Krankenhaus. Julien Boniface fragte die junge Dame, ob sie wisse, ob Dr. Tung in seinem Zimmer sei. Als sie mit der Antwort zögerte, zeigte er ihr seinen Dienstausweis. Das schien sie aber weder zu beeindrucken noch zu überzeugen, denn sie murmelte nur abweisend:
»Ich habe meine Vorschriften.« Kaum zwanzig und schon blasiert…
Im Aufzug sagte er sich: »Die jungen Leute beginnen, mich aufzuregen; ein Zeichen dafür, dass ich allmählich ein alter Knacker werde. Außerdem hätte ich lieber laufen sollen, ein bisschen Trai-321
ning könnte nicht schaden.«
Im fünften Stock klopfte er an die Tür von Zimmer 509.
»Herein!«, erklang es auf Englisch.
Yan Tung saß mit dem Rücken zur Tür an seinem Schreibtisch, der zwischen dem Bett und einem Kleiderschrank stand. Als Julien eintrat, hörte er auf zu schreiben und wandte sich zu ihm um. Sein bartloses Gesicht ließ ihn noch jünger erscheinen, als er war (siebenundzwanzig, wie Julien wusste).
»Was ist?«, fragte er mit kaltem Blick.
»Entschuldigen Sie die Störung … Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?«
Der junge Arzt machte eine Handbewegung durch die offene Tür auf den Flur hinaus und erklärte ihm, dass die Hausordnung Besuche auf den Zimmern ausdrücklich untersage. Er sprach ein äußerst gepflegtes Englisch, nach Juliens Dafürhalten mit Cambridge-Akzent (was ihn überraschte). »Ich habe ganz den Eindruck, dass er auf meinen Besuch vorbereitet war«, dachte der
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