Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
von ihren Folterungen und den Folgeschäden erholen sollten. Nicht wenige davon konnten ohnehin ihre Zimmer gar nicht verlassen. Sayyed Razmadi lehnte an einer Säule in der Nähe der Bar und suchte durch Zeichen, Laurence auf sich aufmerksam zu machen. Was mochte er von ihr wollen? Sie hatte keine Lust, sich mit ihm zu unterhalten. Trotzdem schickte sie ein Lä-
cheln zu ihm hinüber, um ihm zu bedeuten, dass sie ihn erkannt habe und ihm nichts nachtrage wegen seiner Aussage damals und seiner ›frei erfundenen Lüge‹, wie er das genannt hatte. Er machte einige unsichere Schritte auf sie zu, drehte dann aber ab; er war offensichtlich betrunken. Dennoch wiederholte er seine Grimassen, 327
sich noch einmal Laurence zuwendend: Er wies auf Teresa Lagerstein, die im Gespräch mit einem hoch gewachsenen, allmählich er-grauenden Mann war, und deutete mit weit aufgerissenen, schreck-haften Augen und einem Griff an die Kehle Gefahr an …
Laurence ging nach hinten in den Saal, um festzustellen, was Razmadi gemeint haben konnte. Dort war eine Vergrößerung des Sig-nets von Archipel International auf einem Dreifuß aufgestellt.
»Frau Dr. Descombes!«, rief ihr, sich umwendend, Teresa zu. »Darf ich Ihnen Dr. Malbar Soliman von der Weltgesundheitsorganisa-tion vorstellen, einen großen Freund unseres Hauses? Er ist eigens aus Genf gekommen, um der Taufe unseres jüngsten Kindes beizuwohnen… Ohne die Kupplerin spielen zu wollen, bin ich doch überzeugt davon, dass er unbedingt Ihre Bekanntschaft machen möch-te.«
»Er kennt mich bereits«, antwortete sie kaum hörbar. »Nicht wahr,
›Herr Professor‹?«
Ihre Blässe alarmierte die Gründerin der Résidence Victor. Um Himmels willen, bloß keine Szene an diesem Abend, vor all den herumschnüffelnden Journalisten! Das wäre ja eine Katastrophe!
Soliman verneigte sich förmlich vor Laurence. O ja, er kenne sie
– und das in mancherlei Hinsicht. Dann legte er beruhigend die Hand auf den Arm der Gastgeberin und fügte sanft hinzu:
»Meine Liebe! Dürfte ich Sie bitten, mich für ein kurzes Gespräch unter vier Augen mit unserer berühmten Freundin allein zu lassen?«
Teresa stimmte mit einem gezwungenen Lächeln zu. Sie war zu allem bereit, wenn sich das ohne Aufsehen regeln ließ. Es musste eine heftige Meinungsverschiedenheit zwischen diesen beiden geben, das war unübersehbar. Gott sei Dank war man hier unter zivilisierten Menschen! Sie entfernte sich eiligst, während ihre Blicke einen Verbündeten suchten – vermutlich Antoine Becker.
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Kahled Imran hatte eine ›Sonderbehandlung‹ zu erwarten, wie das im Jar-gon von Maghrabi hieß,. Oberst Sheba hatte ihn höchstpersönlich im ›Kloster‹ abgeliefert, und er wurde in einer nahe an der Krankenstation gelegenen Zelle dauernd von zwei Männern bewacht.
Drei Tage lang ließ man ihn völlig in Ruhe, weil man auf die Ankunft eines ›bedeutenden Mannes‹ wartete, der bei den Verhören dabei sein sollte.
Zur psychologischen Vorbereitung brachte man ihn jedoch in die alte Kapelle und zwang ihn, den Folterungen anderer Opfer beizuwohnen. Die ›Be-fragungsexperten‹ hatten mitbekommen, dass der neue Gefangene vom Generalstab des gegnerischen Lagers den Rebellen ausgeliefert worden war. Den Grund dafür kannten sie zwar nicht, aber sie sahen in der Auslieferung eine Art von Anerkennung ihrer Methoden. Und deshalb fühlten sie sich ange-spornt, ihr ganzes Können unter Beweis zu stellen …
Khaled sah nach nichts Besonderem aus. Er war schmächtig und rieb sich ständig die Hände, als ob er sie wärmen wolle. Laurence erkannte rasch, dass er sehr viel intelligenter war, als er merken lassen wollte, und zweifellos von außergewöhnlicher Charakterstärke. Daher war sie auch nicht überrascht von der unglaublichen Widerstandskraft, die er dann seinen Peinigern gegenüber bewies.
Niemand wusste, wer dieser Spezialist war, der eigens aus Rhages an-gereist war, aber die Unterwürfigkeit, die ihm gegenüber sogar Oberst Sheba bezeugte, bestätigte seinen hohen Rang. Man nannte ihn nur den ›Professor‹.
Er gehörte nicht in diese besondere Welt von Maghrabi, und es war ihm an-zumerken, dass er jeden Tag, den er hier verbringen musste, als Strafe empfand. Sein Sonderauftrag bestand darin, von dem Gefangenen Auskunft über eine mysteriöse Liste mit Nummern und Codebezeichnungen zu erhalten. An anderen Fragen war er nicht interessiert, und er lehnte es ab, an der Auswahl oder Anwendung der Folterungen
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