Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
teilzunehmen. Oft griff er ein, um das Vorgehen der Schinder abzumildern – aber allein aus der Sorge, den Gefolterten am Leben zu erhalten, und keineswegs aus Mitgefühl für seine Leiden.
Eines Abends suchte er Laurence in der Krankenstation auf. Sie hatte ge-329
rade Khaleds Untersuchung beendet, der beim Untertauchen im ›Bad‹ der Kapelle schließlich ohnmächtig geworden war.
»Ich weiß, was Sie denken, und ich bedauere das«, sagte er ohne alle Umschweife. »Und Sie dürfen mir glauben, dass ich diese ›Arbeit‹ genauso verabscheue wie Sie. Dennoch brauche ich Ihre Hilfe.«
Laurence war verblüfft, aber weniger darüber, was er ihr da sagte, sondern darüber, dass er es auf Französisch sagte, und das so gut wie akzentfrei.
Sie hatte ihre Muttersprache inzwischen seit fast drei Jahren nicht mehr ge-hört.
»Ich kann nichts weiter tun.«
»O doch!«, entgegnete er und warf einen Blick auf den Mann, der vor ihnen lag. »Sie können mit ihm reden. Die sanfte Methode wirkt gelegentlich Wunder! Sonst machen ihn diese Bauern da einfach kaputt. Und Sie können verhindern, dass er schließlich nur noch dahinvegetiert.«
Sie zog sich zum vergitterten Fenster zurück. Selbst wenn es höchst unwahrscheinlich war, dass ihr Patient ihrem Gespräch folgen konnte, brachte sie es doch nicht fertig, die Unterhaltung vor ihm so zu führen, als sei er bereits das hirnlose Wrack, zu dem er fraglos werden würde, wenn man seiner
›Sonderbehandlung‹ nicht bald ein Ende setzte.
»Dahinvegetieren, ja vermutlich… Und wieso bekümmert Sie das? Er kommt doch ohnehin nicht lebend hier aus dem ›Kloster‹ heraus. Als ob Sie das nicht genau wüssten!«
»Aber nein, er wird es mit heiler Haut verlassen, das ist sogar zwingend!
Man wird ihm einen ordnungsgemäßen Prozess machen und ihn vor den Augen aller und nach Recht und Gesetz zum Tode verurteilen. Pflegen Sie ihn in der Zwischenzeit gut, und bemühen Sie sich, ihn zur Vernunft zu bringen. Meinen Sie denn, dass diese Quälerei mir Spaß macht?«
Am Tag darauf wurde Laurence in die Kapelle gerufen. Oberst Sheba und seine Schergen tranken Champagner. Der Professor war bereits wieder nach Rhages abgereist – er hatte die gewünschten Auskünfte bekommen. In einer Ecke auf einem Tisch erlitt Khaled Imran seinen dritten epileptischen Anfall.
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Der neunte führte dann zu seinem Tod, nach einem Tag ohne Bewusstsein und einer Nacht der Agonie.
Neben dem großen Saal lag ein Wintergarten, in dem der Treib-hauseffekt das Wachstum vieler tropischer Pflanzen begünstigte, von denen manche über zwei Meter hoch waren. Zwischen dem Grün befanden sich Sitzgelegenheiten, und Dr. Soliman schlug Laurence vor, sich gemeinsam mit ihm hinzusetzen. Dies lehnte sie jedoch mit steinernem Gesicht ab. Der Wintergarten war verlassen und wurde nur durch das vom Saal hereinfallende Licht erhellt; es roch nach Humus und Gartenerde.
»Wie konnten Sie es wagen?«, fuhr sie ihn zitternd vor Empörung an. »Und gerade in diesem Haus, das ist doch der Gipfel! Sie kommen mir nicht so einfach davon!«
»Angesichts unserer jeweiligen Aktivitäten war ein Zusammentreffen zwischen uns, früher oder später, absolut unvermeidlich«, er-klärte er ohne jede Aufregung. »Nachdem ich ja wusste, dass Sie heute Abend hier sein würden, wäre es mir doch ein Leichtes gewesen, wegzubleiben, oder nicht? Aber das hätte ja nichts daran geändert, dass wir einfach über bestimmte Dinge miteinander reden müssen.«
»Frau Lagerstein scheint Sie für einen Mediziner zu halten …«
»Das bin ich auch: Spezialist für Immunologie. Und hoher Funktionär der WHO, seit fünfzehn Jahren. Glauben Sie mir, ich kann gut verstehen, dass …«
»Wofür halten Sie mich? Was immer Sie sagen mögen, ändert nichts an dem, was Sie dort unten vor meinen Augen getan haben!«
»Lassen Sie mich dennoch erst einmal reden, urteilen können Sie anschließend. Mein Problem ist es nicht, dies oder jenes zu sagen oder auch nicht, sondern abzuwägen, wie weit ich mit der Wahrheit überhaupt gehen kann. In der Tat habe ich Ihnen von drei Ange-331
legenheiten zu berichten. Bei der einen geht es um das, was da in Maghrabi geschehen ist. Die beiden anderen betreffen Sie persönlich, und ich zögere diesbezüglich noch immer, weil es Sie grausam treffen könnte …«
»Bleiben Sie mir mit Ihren Skrupeln vom Hals! Seit wann zögern Sie denn, Schmerz zuzufügen? Ihre ›Wahrheiten‹ machen mir keine Angst! Wenn es etwas zu
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