Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
Gefahr gar keine Rede! Als sie sich ihr zuwandte, sah Kiersten sofort, dass ihre Intuition nicht getrogen hatte: Laurence starrte auf die Wand zwischen Fenster und Tisch mit vor wildem Schrecken geweiteten Augen, den Mund weit offen in einem Schrei, der sich nicht lösen wollte, die Hand ausgestreckt gegen etwas, das sie da sah und vor dem sie sich schützen wollte.
»Laurence, was haben Sie denn? Was ist denn los? So sagen Sie doch etwas!«
Das Zimmer war nur in das Licht der Nachttischlampe getaucht.
Sie hätte vielleicht die Deckenleuchte einschalten sollen, aber…
Laurence stieß ein entsetztes Röcheln aus und tat einen Schritt auf sie zu. Es wirkte, als wolle sie sie vor etwas bewahren, das nur sie sehen konnte. Sie schwankte und sank mit glasigen Augen um.
Kiersten konnte sie gerade noch auffangen und davor bewahren, mit dem Kopf gegen die Heizung zu schlagen. Sie hob sie hoch und legte sie auf das Bett. »Sie wiegt nicht mehr als ein Spatz«, dachte sie dabei gerührt.
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Das Telefon klingelte gerade in dem Augenblick, als sie ein Hand-tuch nass machen wollte. Sie hielt inne, nahm den Hörer ab und erkannte die Stimme Thierrys.
»Störe ich Sie? Dann rufe ich später noch mal an, wenn es Ihnen recht ist. Für das, was ich zu sagen habe, werde ich nämlich vielleicht etwas länger brauchen …«
Er hatte offenbar gleich an der Art, mit der sie sich meldete, gemerkt, dass sie nicht allein war.
»Nein, schon recht, ich höre.«
Sie ließ ihn reden, ohne ihn mit den Fragen zu unterbrechen, die sie bedrängten. Obwohl ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen war durch das, was er mitzuteilen hatte, bewunderte sie unterschwellig die Art, wie er seinen Bericht abgab. Da war kein Wort zu viel, die Fakten wurden präzise aufgezählt, dazu die genaue Zeitangabe. Das Wesentliche war, dass Julien die Geschichte wohl ohne schwer wiegende Folgen überstehen würde. »Vorausgesetzt, es gibt keine unvorhergesehenen Komplikationen«, hätten die Ärzte gesagt. Aber das müsse man nicht so ernst nehmen, das sei ihre übliche Floskel. Allerdings werde es eine ganze Zeit dauern, bis er wieder auf den Beinen sei, wegen der inneren Verletzungen; vier Wochen werde das mindestens gehen, eher fünf oder auch sechs.
Ob er wieder zu Bewusstsein gekommen sei? Ja, kurz; aber wegen seiner heftigen Schmerzen habe man ihm entsprechend starke Be-täubungsmittel geben müssen. Vernehmungsfähig sei er sicher nicht vor morgen früh. Seine Aussage sei zwar bestimmt nützlich, aber man habe schon eine recht gute Vorstellung von dem, was sich da abgespielt habe. Dieser Yan Tung hätte bis zum Hals in den Machenschaften der Universellen Vereinigungskirche gesteckt. Er hatte den Rang eines Leiters für Ostkanada, war also ein hohes Tier in der Sekte.
»Er hat zwar seine Papiere angezündet, ehe er Hand an sich selbst legte, dabei aber die Effizienz der Sprinkleranlage unterschätzt. Ver-340
brannt ist eigentlich nur die oberste Lage. Der Rest ist natürlich völlig durchweicht, aber Langford macht sich stark dafür, das zu fünfundneunzig Prozent wieder hinzukriegen. Dem ersten Augen-schein nach sind da Dokumente von ganz entscheidender Bedeutung für die Organisation der Sekte dabei…«
Mit steifem Nacken neben dem Nachttischchen stehend, konnte sich Kiersten das Drama lebhaft und geradezu schmerzhaft vorstellen, als ob ihr plötzlich die Gabe des Zweiten Gesichts verliehen worden sei. Sie hatte das Gefühl, als ob sie sich nur umdrehen müs-se, um dort Julien auf dem Boden liegen zu sehen. Dummes Zeug!
Sie war hier in ihrem Pariser Hotelzimmer und beobachtete mit Sorge Laurences unregelmäßiges Atmen. Dieses Phänomen einer Art von Bewusstseinsspaltung machte ihr zu schaffen.
»Von wo rufen Sie denn an?«
»Aus dem Riverside-Krankenhaus. Ich bin seit fünfzig Minuten hier. Ich wollte mich erst zusammenfassend informieren, ehe ich Sie anrief. Ich war in meinem Labor und habe erst um halb fünf von der Sache erfahren. Ihr Saltaniwsky ist eine rechte Pflaume!«
»Ach tatsächlich? Den Ausdruck hat noch niemand für ihn gebraucht, aber wenn Sie meinen …«
»Paddington kam endlich auf die Idee, mich anzurufen …«
»Paddington? Ist der bei Ihnen?«
»Hier im Krankenhaus jedenfalls. Er kümmert sich um Juliens Frau. Die hat das schwer mitgenommen. Nach dem letzten Stand der Dinge hat er sie der Behandlung durch Balzac anvertraut. Kiersten?«
Er musste wohl ihr erschrecktes Aufstöhnen mitbekommen haben, obwohl sie
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