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Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt

Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt

Titel: Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fuenfte Offenbarung
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Abend…«
    Sie berichtete von dem Empfang in der Résidence Victor und dem Gespräch mit Malbar Soliman im Wintergarten. Je weiter ihre Schilderung fortschritt, desto stärker übermannten sie ihre Gefühle.
    Immer wieder einmal wurde sie durch ein trockenes Schluchzen unterbrochen.
    »Sie können gut zuhören«, sagte sie dankbar.
    Kiersten antwortete nicht, obwohl es das erste Mal war, dass man ihr ein solches Kompliment machte. Julien hatte ihr eines Tages, als er noch ihr Vorgesetzter war, gesagt: »Ich wiederhole mich, ich weiß das. Das liegt daran, dass Sie immer, wenn man mit Ihnen spricht, den Eindruck machen, als dächten Sie an etwas ganz anderes.«
    Laurence enthüllte die Verhandlungen, die ihrer Freilassung aus Maghrabi vorangegangen waren. Schließlich kam sie auf die Rolle zu sprechen, die Jean-Louis Becker bei ihrer Gefangennahme gespielt hatte, und auch bezüglich der Gerüchte über ihre ›Beziehung‹
    zu Oberst Sheba … Dann konnte sie nicht weitersprechen; die Verzweiflung brach wie eine riesige Woge über sie herein. Sie ließ sich vornüber auf den Boden sinken, geschüttelt von einem Wein-krampf, der sie förmlich zu zerreißen drohte…
    344

    Kiersten erwachte gegen vier Uhr morgens. Die Straßenlaternen warfen das fahle Rechteck des Fensters auf die Decke, durchschnitten von einem dunklen Kreuz. Hatte sie geträumt? Es war ihr vorgekommen, als ob eine Stimme sie gerufen hätte.
    Sie blickte auf Laurence hinunter, die sich vor dem Bett auf dem Boden wie eine Kugel zusammengerollt hatte. Während der Tränenflut vorhin hatte Kiersten sich damit begnügt, ihr die Hand auf die Schulter zu legen, um sie spüren zu lassen, dass sie da war. Sie hatte tröstende Worte in ihrem Kopf gewälzt und war dann froh gewesen, dass sie sie für sich behalten hatte.
    Ihr Schützling war schließlich, am Ende seiner Kräfte, in einen bleiernen Schlaf gefallen. Man musste es der Zeit überlassen, die Wunden zu heilen. Nur nichts überstürzen. Gott sei Dank hatte ihr die Lektüre des Tagebuchs manche Türen zur Welt von Laurence geöffnet. Um auf Zehenspitzen einzutreten!
    Sie schaute sie näher an und sah Tränen schimmern. »Ich wusste gar nicht, dass man gleichzeitig schlafen und weinen kann.« Sie streckte die Hand aus und streichelte das seidige Haar, das im Halbdunkel aschblond schimmerte.
    Laurence fröstelte und schlug ihre in Kummer getränkten Augen auf. Sie erkannte das über sie gebeugte Gesicht, und ihr Ausdruck veränderte sich. Ein ganz zaghaftes, nahezu unmerkliches Lächeln trat auf ihre Lippen.
    »Danke!«, murmelte sie.
    Sie erhob sich, hob die Bettdecke etwas an, schlüpfte darunter, kuschelte sich an die Freundin, murmelte nochmals »Danke!« und war sofort wieder eingeschlafen.
    Unten auf der Straße kamen gerade Nachtschwärmer vorbei und grölten zum Steinerweichen einen gängigen Schlager. Eine Frauen-stimme protestierte kreischend: »Gaston, mach keinen Schiff! Gib das sofort her!« Gelächter, Witze, die Geräusche einer Verfolgungs-jagd.
    345

    Kiersten dachte mit weit offenen Augen: »Gestern sind wir uns das erste Mal begegnet. Was weiß sie schon von mir? So gut wie nichts. Und bei dem bisschen, was ich ihr von mir erzählt habe, müsste sie eigentlich auf der Hut vor mir sein.« Dieses Vertrauen überwältigte sie. Nie zuvor hatte sich ihr jemand mit solcher Rück-haltlosigkeit anvertraut. Gewöhnlich hielten die Leute eher Abstand zu ihr. Selbst die Männer, die eine mehr oder weniger bedeutende Rolle in ihrem bisherigen Leben gespielt hatten, waren irgendwie eingekapselt geblieben. Mit Thierry war es anders – er war ganz wild darauf, sich ihr voll und ganz hinzugeben, aber sie hatte Probleme, darauf einzugehen.
    War nicht Vertrauen eine Vorbedingung, ohne die gar nichts möglich ist? Aber die Hauptfrage, die Kiersten umtrieb, war im Augenblick: »Was ist überhaupt alles möglich?« Sie fand zwar eine Antwort darauf, aber die behagte ihr gar nicht, weil sie sowohl fürchtete, damit Recht zu haben, als auch, sich zu täuschen.
    Sie spürte an ihrer Seite den weichen Körper der Schläferin, den sanften Hauch ihres Atems, den leichten Druck ihrer Stirn gegen ihre Schulter, und sie nahm den feinen Geruch ihrer Haut wahr. Sie gab sich ganz dem Gefühl hin, das sie ihr gegenüber empfand und das sie ganz erfüllte: Ja, sie wollte sie halten und behalten, sie einhüllen und beschützen und sie für sich haben …
    Dann war sie wieder völlig verblüfft über sich selbst.

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