Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
gedrängt: »Er kann nichts sagen, das ist sicher! Und er wird befürchten, dass dieses Gespräch mitgeschnit-ten wird!« Dennoch hatte sie den Eindruck, dass er froh darüber war, dass wohl auch die Italiener nichts vor der Großen Versammlung unternehmen würden. Aber Lydia hatte das Schicksal Gabriellas mit dem von Sandrine verbunden. Warum, und mit welchem Recht? Hatte sie tatsächlich den Kopf verloren?
Becker erhob sich und sagte ohne große Überzeugungskraft, dass er es vorgezogen hätte, mit Inspektor MacMillan unter weniger unangenehmen Umständen zusammenzutreffen. Er würde ihr eine Nachricht in die Botschaft übermitteln, wenn es etwas Neues mitzuteilen gäbe.
»Ich lasse Sie mit Ihrem Zweiten Ich allein«, fügte er hinzu. »Sie werden ja das Sprichwort kennen: Mit einer solchen Verbündeten braucht man keine Feinde mehr!«
»Na, das nennt man ja wohl jemandem den Rest geben«, entgegnete Lydia mit ironischem Lächeln. »Aber das kann ich auch. Zum Beispiel durch meine schlechte Nachricht, die ich Ihnen ja noch vorenthalten habe …«
Er hatte eigentlich keine Lust, sie sich anzuhören. Sie wollte ihn ohnehin gewiss nur weiter reizen. Aber seine Neugier gewann doch die Oberhand, und obendrein hatte er geglaubt, in ihrer Stimme einen Unterton des Triumphes zu hören …
»Gabriella hat vor ihrer Wallfahrt nach Xaghra in einem Bordell gearbeitet«, verkündete Lydia. »Das hätte Ihnen eigentlich Trocchia mitteilen können, der ist schließlich Stammgast bei Mamma Sissa!
Ich sage Ihnen das nur aus Gefälligkeit. Denn die Kleine ist schon seit geraumer Zeit HIV-positiv!«
Trotz seiner Selbstbeherrschung gelang es Jean-Louis nicht, diesen Schlag wegzustecken. Wenn er ihm selbst gegolten hätte, hätte er es 364
wohl geschafft. Aber es ging nicht um ihn, sondern um Miguel D'Altamiranda, den Höchsten Führer! Er stand da wie versteinert, das Gesicht blutleer.
Die Gäste an den anderen Tischen beobachteten heimlich die Szene.
»Sie lügen!«, sagte er schließlich mit trockenem Mund.
»Das wäre zu einfach«, antwortete sie mit einem Schulterzucken.
»Und die Dame hier hat Ihnen auch nichts weiter zu sagen, Signor Becker. Sie können gehen!«
Sie wedelte mit gespreizten Fingern durch die Luft. Er machte eine Bewegung, als ob er die Kontrolle verlieren und ihr an die Kehle springen würde. Doch er fing sich wieder und entschloss sich zur Flucht. Mit hochgerecktem Kopf und steifen Schritten stol-zierte er hinaus.
Den Blick in die Ferne gerichtet und um Atem ringend, suchte sich Inspektor MacMillan zu fassen. Lydia legte ihr die Hand auf den Unterarm, ihre herausfordernde Miene war einem Ausdruck der Teilnahme, ja der Freundschaft gewichen.
»Es tut mir Leid, aber es musste sein.«
»Warum?«
»Ich habe Becker in Malta beobachtet. Schwachheit und Nachgiebigkeit, wie sagt man doch gleich … ja, Servilität reizen ihn nur. Er kann es nicht lassen, Leute zu demütigen, von denen er das Gefühl hat, sie hätten Angst vor ihm. Er betreibt das mit wahrer Meister-schaft, und man merkt es meist zu spät, wenn man die bittere Pil e schon geschluckt hat.«
Kiersten rüttelte sich aus ihrer Lethargie auf.
»Was wollen Sie mir damit sagen? Dass ich ihm mehr Widerstand hätte entgegensetzen müssen?«
»Sie konnten es ja gar nicht! Zu Ihrem Glück ist Wonder Woman Ihnen im letzten Augenblick zu Hilfe geeilt, um ihn zu provozieren.«
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»Aber mit welch schrecklichem Risiko! Nur ein Wort von ihm, und meine Tochter…«
»Das stimmt zwar, aber er würde ein solches Wort nicht sagen, ohne das damit verbundene Risiko für El Guía zu kennen. Für sich selbst kennt er keine Furcht. Er ist bereit, sich zu opfern. Diese großsprecherische Nummer war dazu bestimmt, ihm klar zu machen, dass sein kinderschänderischer Guru nicht vor einem hinterhältigen Schlag gefeit ist. Sie hat man in der Hand, wegen Sandrine.
Aber mich? Verstehen Sie jetzt? Becker muss sich nun sagen, dass ich verrückt genug bin, alles zu sabotieren! Übrigens können Sie jetzt abschalten …«
Kiersten griff in ihre Tasche und stellte das kleine Tonbandgerät ab. Sie hatte einen ganz trockenen Mund (die Medikamente, dachte sie) und machte der Bedienung, die gerade neben der Kasse telefonierte, ein Zeichen. Dann wandte sie sich an Lydia: »Hat Le Bouyonnec Ihnen gesagt, wo Sie mich finden? Vielleicht war das wirklich eine gute Idee… Ich weiß schon nicht mehr, wo mir der Kopf steht! Jedenfalls hoffe ich sehr, dass die hiesige
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