Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
daran nicht im Mindesten interessiert!«
»Welche Lüge! Ich sollte Sie eigentlich dafür bestrafen, indem ich Ihnen wirklich nichts sage. Aber kommen Sie, das ist doch lächerlich! Ja, die Kanadier sind tüchtig, und sie gehen ganz schön ran!
Die haben Ihren Freund Farik doch tatsächlich ins Krankenhaus 361
befördert. Und böse Zungen behaupten sogar, dass sie den armen Tung angezündet hätten. Aber wir von Casus Belli haben schon auch einiges in der Hinterhand!«
Kiersten stammelte: »Aber Lydia!« Es kam ihr vor, als verlöre sie den Boden unter den Füßen und wüsste nicht weiter. Niemals vorher in ihrer ganzen Laufbahn hatte sie sich so angreifbar und verwirrt gefühlt. Und ein weiteres Mal hatte sie den Eindruck, sowohl Zuschauerin als auch handelnde Person eines Traumes zu sein. Sie empfand das dringende Bedürfnis, so weit wie nur irgend möglich wegzulaufen, um damit zu zeigen, dass sie nichts zu tun haben wollte mit diesen unverantwortlichen Sätzen der Frescobaldi. »Wenn ich nicht unter der Wirkung dieser verdammten Beruhigungspillen stünde«, dachte sie, »wäre ich längst auf und davon.« Dennoch blieb sie, und zwar aus gutem Grund: Sie spürte intuitiv, dass die Italienerin haargenau wusste, was sie wollte. Deren vollmundiges Gerede war insgeheim streng kontrolliert: Sie verriet dem Ersten Ratgeber der Vereinigungskirche nicht das Geringste, was dieser nicht schon gewusst hätte.
»Ich weiß nicht, wer oder was Casus Belli sein soll«, entgegnete er. (Er hatte sich für seinen Teil noch nicht entschieden, ob er auf-springen oder sitzen bleiben sollte.) »Sie dagegen habe ich schon am Werk gesehen. Sie haben sich unter falschem Namen und einem Vorwand in unser Heiligtum eingeschlichen. Sie haben unsere Gastfreundschaft missbraucht und unerträgliche Lügen über eine edle Seele verbreitet, die Sie Ihres Vertrauens gewürdigt hat.«
»Bravo, bravissimo! Weiter so!«, antwortete sie mit höhnischem Lachen und tat, als klatsche sie Beifall. »Jetzt halten Sie mal den Mund und hören mir zu! Andernfalls wird Ihr Guru mit der gro-
ßen Seele seine nächste Offenbarung hinter Gittern verkünden müssen!«
Becker schaute sie von oben bis unten an, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Er hatte jetzt begriffen, dass sie ihn außer 362
Fassung bringen wollte. Um ein Haar wäre es ihr gelungen. Das würde ihm nicht wieder passieren! Er zog eine kleine Taschenuhr hervor und legte sie demonstrativ vor sich auf den Tisch.
»Ich gebe Ihnen genau fünf Minuten. Verplempern Sie sie nicht mit Geschwätz. Sie könnten das bedauern! Selbst wenn Sie sich entschlossen haben, andere für Ihre Fehler büßen zu lassen…«
»Welche ›anderen‹?«, fragte sie und beugte sich vor, um das fein ziselierte Zifferblatt der Uhr zu bewundern. »Wenn Sie damit das junge Mädchen aus Kanada meinen, müssen Sie sich darüber mit meiner Kollegin verständigen. Mich geht das nichts an. Einmal abgesehen davon, dass Sandrine mit ihren gut fünfzehn Jahren wohl schon zu alt ist, um ihr Abendgebet im Bett El Guías zu sprechen.«
»Sie vergeuden Ihre Zeit!«, sagte er tonlos.
Lydia drehte sich zu der jungen Bedienung um und winkte sie herbei, um einen Cappuccino zu bestellen, »mit schön viel Schaum darauf« – diesmal zögerte der Stift über dem Notizblock.
»Aber rasch bitte, der Herr möchte nämlich gehen«, fügte sie hinzu und wandte sich dann an Becker: »Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie; welche wollen Sie zuerst hören?
Nachdem es Ihnen gleich zu sein scheint, die gute zuerst: Gabriella lebt, obwohl wir schon befürchteten, dass… Aber nein, die Geweihten haben sie nach Istanbul geschafft, wo sie in einem Film mit-wirken soll. Sie haben für das Casting sogar ihr Foto verbreitet, und auf diese Weise haben wir davon erfahren.«
»Von Ihrer ganzen Geschichte verstehe ich nur eines: Sie haben ein unschuldiges Mädchen dazu benutzt, einen unverständlichen Rachefeldzug gegen unsere Gemeinschaft zu führen. Das ist unerträglich! Ist das alles, was Sie mir zu sagen haben?«
»Nein. Ich schlage Ihnen einen Handel vor: Casus Belli wird sich ruhig verhalten, und Ihre Geweihten drehen kein Video mit Gabriella. Was Garantien und sonstiges betrifft, wird man sich mit Giuseppe Trocchia, Ihrem Mann in Neapel, verständigen.«
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Unbewegt warf er zwei Hundertfrancscheine auf den Tisch und steckte seine Uhr ein. Kiersten dachte, gegen ihren Willen in die Rolle der Zuschauerin
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