Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
zerstreut die einzelnen Blütenblätter abzuzupfen. Dann entschloss sie sich, die Gelegenheit beim Schopf zu fassen.
»Du kennst diesen Psychiater?«
»Dem Namen nach jedenfalls. Warum?«
»Mama war bei ihm in Behandlung. Aber nicht aus dem Grund, den du annimmst…«
502
»Ich nehme gar nichts an. Dr. Paddington wird vom gesamten Personal der GRC aus den unterschiedlichsten Gründen konsultiert.«
»Ihre Besuche bei ihm hatten nichts mit ihrer Arbeit zu tun. Man hatte Krebs im Anfangsstadium bei ihr festgestellt, darum ging's! Sie ist ohne Operation davongekommen, nur mit Chemotherapie. Sie hat mich heute früh geweckt unter dem Vorwand, mit mir den Son-nenaufgang über dem Tiber zu betrachten. In Wirklichkeit wollte sie mir dieses Geheimnis anvertrauen. Dir erzähle ich es nur deshalb weiter, weil sie ja schließlich deine Tochter ist. Aber ich würde an deiner Stelle so tun, als wüsste ich nichts davon!«
Der alte Herr versicherte ihr, dass er ihren Rat beherzigen würde.
(Vor zwei Jahren hatte bei einem gemeinsamen Essen im Universitätsclub Kiersten für einen Augenblick ihr Medikament auf dem Tisch liegen lassen, während sie darauf wartete, dass Francesco Wasser brachte. Er hatte heimlich dessen Namen gelesen; wenig später hatte er einen befreundeten Arzt angerufen, und dessen Auskunft hatte ihm die Augen geöffnet über den tatsächlichen Anlass für Kierstens kurzen Klinikaufenthalt und die wahre Natur dieser angeblichen ›Zyste unter der Achsel‹.) Er wollte seine Enkelin gerade darauf aufmerksam machen, dass es seit langer Zeit wieder das erste Mal gewesen sei, dass sie von Kiersten als ›Mama‹ gesprochen habe; doch als er sah, wie sie nachdenklich das Gesicht verzog, ließ er es sein. »Sie schleicht wie die Katze um den heißen Brei«, dachte er.
Und schlagartig ging ihm auf, was sie ganz offensichtlich so beschäftigte.
»Sie bemüht sich, mir wieder näher zu kommen«, fuhr Sandrine fort. »Ich könnte mir nichts Schöneres wünschen, auch wenn es nicht immer einfach ist. Und Laurence ermutigt sie, das ist ganz sicher, zu dieser Anstrengung. Was hältst du denn von ihr?«
»Von Laurence?«
»Ich meinte eigentlich diese Anstrengung. Aber wenn wir schon 503
dabei sind … Es ist immerhin ein bisschen komisch …«
»Ihr Verhältnis zueinander soll komisch sein?«
»Hör schon auf, du weißt doch genau, was ich sagen will! Und glaub vor allem nicht, dass es mich stört! Ich wusste lediglich nicht, dass meine Mutter auf Frauen steht.«
Der Richter blieb stehen und schaute Sandrine so lange eindringlich an, bis deren herumirrender Blick sich von seinen grauen Augen festhalten ließ.
»Ob deine Mutter ›auf Frauen steht‹, entzieht sich meiner Kenntnis«, sagte er. »Dagegen besteht in der Tat nicht der Schatten eines Zweifels daran, dass sie diese Laurence sehr gern hat. Und ich finde, dass es sogar das Beste ist, was ihr seit Jahren begegnet ist. Diesmal möchte ich dir empfehlen, so zu tun, als hättest du nichts gemerkt, und abzuwarten, bis sie selbst etwas zu dir sagt.«
Ein Ausdruck, der ihn wieder sehr an Gwendolyn erinnerte, husch-te wie ein Schatten über das ausdrucksvolle Gesicht des Teenagers.
»Jetzt gibst du's mir aber prompt zurück!«, entgegnete sie. »Aber es ist völlig okay, weil ich zweihundertprozentig deiner Meinung bin.«
Ihr Rückweg führte sie zur anderen Seite der eingerüsteten Kirche.
Das erschien bei dem Gewirr der schmalen, so gut wie verlassenen und abwechselnd in der Sonne und im Schatten liegenden Gassen, durch welche ihr Spaziergang sie geführt hatte, wie ein Zufall. Aus der Kirche hörte man Gesang, begleitet von einer offensichtlich etwas kurzatmigen Orgel.
Sandrine mochte vielleicht sieben oder acht Jahre alt gewesen sein, als sie zuletzt an der Seite ihres Großvaters, seiner Ehren Richter William MacMillan, dahingeschritten war, ihre Hand in der seinen – so wie eben jetzt.
»Wenn ich es recht bedenke«, sagte sie leise, »redest du eigentlich nicht wie ein Pfarrer. Nein tatsächlich: überhaupt nicht! Und au-
ßerdem, dass du es nur weißt: Ich mag dich total gern!«
504
Die Einrichtung von Enrico Bugliones großem Büro stand in starkem Gegensatz zu der sonst das Orsini-Palais beherrschenden betonten Schlichtheit. Sie war geprägt von Großzügigkeit und bewusster Repräsentation. Die Wände waren vom kunstvoll intarsierten Parkettboden bis zu der prunkvollen Stuckdecke mit durchgehen-den Regalen aus dunklem Mahagoni besetzt.
Weitere Kostenlose Bücher