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Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt

Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt

Titel: Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fuenfte Offenbarung
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ich fürchte mich ziemlich vor der Rückkehr nach Mont-Laurier … Ich werde mich dort wie eine Fremde fühlen, selbst meinen besten Freundinnen gegenüber… Wir werden uns nichts mehr zu sagen haben. Ich geb dir mal ein Beispiel, damit du siehst, was ich meine: Bei uns im Supermarkt ist Obst und Gemüse in Cellophan eingeschweißt …«
    »Glaube ich dir aufs Wort! Und weiter?«
    »Du kannst in diesem ganzen Supermarkt herumlaufen, ohne irgendwas zu riechen. In diesem Lagerhaus dort dagegen habe ich gelernt… Aber lassen wir das, reden wir lieber über Gabriella. Die geht nicht mehr in die Schule, seit sie elf ist. Und sie ist eine Prostituierte! Hast du das gewusst?«
    »Sie ist ein armes kleines Ding, das man zur Prostitution gezwungen hat. Das ist etwas ganz anderes. Du solltest dich vor Etikettierungen hüten…«
    »Einverstanden! Aber du solltest wissen, dass mir das nichts ausmacht. Du kannst dir ja gar nicht vorstel en, was die alles weiß! Ich rede jetzt nicht von sexuellen Dingen, obwohl… Nein, ich meine über das Leben ganz allgemein. Ich bin mir so dumm vorgekommen neben ihr! Die errät die Dinge, ohne dass man ihr auch nur eine Andeutung machen muss…«
    Ohne jede Vorwarnung brach Sandrine plötzlich in Tränen aus.
    Sie lehnte sich verlegen an den alten Richter und verbarg ihr Ge-500

    sicht an seiner Schulter. Er sagte kein einziges Wort, ließ sie weinen und streichelte ihr lediglich über das Haar. Schließlich fasste sie sich wieder und richtete sich schniefend auf.
    »Verzeih bitte…«
    »Was denn?«, fragte er und reichte ihr ein Taschentuch. »Verzeihen … einen Vertrauensbeweis?«
    Zwei Frauen gingen über den Platz, schwarz gekleidet, Spitzentü-
    cher über dem Haar. Sie warfen den beiden im Vorübergehen einen langen, ernsten Blick zu.
    »Ich habe dort unten Dinge gesehen, da rede ich mit dir lieber gar nicht darüber«, fuhr Sandrine mit zitternden Lippen fort. »Kiersten kennt doch da jemanden in Ottawa, einen Psychiater … Sie meint, dass er mir helfen könnte, all das zu vergessen. Meinst du, das wäre möglich?«
    »Nein! Vor allem ist es gar nicht wünschenswert. Geh mal lieber davon aus, dass deine Mutter sich missverständlich ausgedrückt hat.
    Ich weiß auch, wen sie gemeint hat: den Dr. Paddington. Das ist wiederum eine sehr gute Idee. Denn du musst reden über das, was dort geschehen ist – und das ist genau das Gegenteil von Vergessen!«
    »Reden darüber, damit was geschieht?«
    »Damit überhaupt etwas geschieht eben! Du bist in Berührung gekommen mit dem Bösen – dem absolut Bösen an sich! Das zu vergessen, würde bedeuten, seine Existenz zu verneinen, und das wür-de deine Seele so verletzen, dass sie nicht mehr normal funktionie-ren könnte. Du wirst jetzt vielleicht finden, dass ich rede wie ein Pfarrer …«
    »Nun ja, ein wenig schon!«
    »Tut mir Leid, aber das Thema ist nun einmal wirklich schwierig.
    In seinem Seidenen Schuh zitiert Claudel als Motto …«
    »Claudel?«
    »Ein französischer Dichter und Dramatiker, Paul mit Vornamen.
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    Habt ihr über den in der Schule nie gesprochen?«
    »Nein, wir haben uns mit den Schwägerinnen von Michel Trem-blay beschäftigt. Also, was ist nun mit diesem Seidenen Schuh?«
    »Bleiben wir mal bei dem erwähnten Motto. Es ist ein spanisches Sprichwort, das sinngemäß lautet: ›Man muss nicht immer gleich mit dem Schlimmsten rechnen.‹ Ich dagegen frage mich, ob nicht heute vielmehr die ›Menschen guten Willens‹ tatsächlich auf das Schlimmste gefasst sein und sich darauf einstellen müssten…«
    MacMillan hatte das Gefühl, dass die Halbwüchsige ihm nicht mehr zuhöre, und es bekümmerte ihn. Er warf sich vor, nicht die richtigen Worte gefunden zu haben, um sich ihr verständlich zu machen. »Ich möchte mit ihr nicht die gleiche Entfremdung erleben wie mit Kiersten. Aber wie kann ich ihr das nur begreiflich machen, ohne sie zu verschüchtern?«
    Sie nahmen schweigend ihren Spaziergang wieder auf. Fühlte sich Sandrine belästigt durch die, wenn auch zurückhaltende, ständige Beobachtung durch ihren ›Schutzengel‹? Jedenfalls war ihr etwas unbehaglich zumute, was an den Blicken zu bemerken war, die sie immer wieder einmal über die Schulter warf. Zweimal hatte sie inzwischen zum Reden angesetzt, war aber über einen tiefen Seufzer nicht hinausgekommen.
    »Ich höre, wie es bei dir denkt«, sagte der Richter.
    Sie hob den Arm, rupfte eine Blume aus der Hecke, die neben dem Gehsteig verlief, und begann

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