Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
kennen lernen zu dürfen, ›El Guía Supremo‹!
– Sie war darüber ganz außer sich.
Am Heck des Schiffes beugte sich Gabriella über die Reling und schien ganz fasziniert von den weißlich gischtenden Kielwellen im türkisfarbenen Wasser. Laurence behielt sie aus den Augenwinkeln sorgsam im Blick.
Monique Schultz hatte eine Mappe mit Unterlagen über die Universelle Vereinigungskirche und ihren Gründer Miguel D'Altamiranda vorbereitet. Aber es war doch ein erheblicher Unterschied zwischen der Lektüre dieser Papiere über die Sekte der Mirandisten und den begeisterten Ausführungen Dora Frascattis über die Heilwir-135
kung der ›Vier Offenbarungen‹ El Guías. Die fünfte würde er verkünden bei der nächsten ›Großen Vereinigung‹ oder, wenn Frau Dr.
Descombes diesen Ausdruck vorziehe, der ›Großen Kommunion des Universalen Geistes‹. Laurence zog gar nichts vor. Diese blinde Gläubigkeit war ihr eher lästig. Da war etwas ganz anderes, was sie sich nicht zu erklären vermochte: vielleicht eine Nuance von Un-glaubwürdigkeit in diesem schwärmerischen Wortschwall, oder die Feststellung, dass sie sich angezogen fühlte von dieser jungen, be-redsamen Frau trotz eines gelegentlichen Anflugs von Verschlagenheit, den sie in diesen dunklen Augen wahrzunehmen glaubte. Ob die Italienerin ihre Gedanken erriet? Jedenfalls wechselte sie das Thema und wies darauf hin, dass Gozo, dessen Küste sich nun am Horizont zeigte, nichts anderes sei als die legendäre Insel Ogygia, wo Odysseus nach seinem Schiffbruch der Nymphe Kalypso begegnet sei.
»Die Kleine sol te sich in Acht nehmen«, warnte Laurence. »Wenn sie sich noch weiter hinausbeugt, wird sie noch im Wasser landen wie seinerzeit Odysseus!«
»Aber sie ist doch kein Kind mehr!«, versicherte ihre Gesprächspartnerin mit sorglosem Lachen.
Dennoch ging sie zu Gabriel a, zog sie am Ellbogen etwas zurück und flüsterte ihr leise etwas zu. Das Mädchen nickte und warf dann einen Blick über die Schulter.
Laurence zuckte zusammen, als ihr eine ›Bewusstseinserweiterung‹
die Brust zusammenkrampfte – diesen Ausdruck hatte sie, mangels eines Besseren, gegenüber Fjodor Gregorowitsch verwendet, um ihm das schmerzhafte Gefühl zu schildern, das sie gelegentlich anfallar-tig überkam wie ein brennender Stich in die Seele. »Plötzliches Erwachen aus langer gefühlsmäßiger Betäubung!«, hatte dieser dazu befunden. »Von einem Sträuben dagegen muss ich unbedingt ab-raten! Sie müssen das kommen lassen, um wieder Fuß in der Wirklichkeit zu fassen. Wenn nicht, kommt es zum großen Schiffbruch 136
– und was dann?«
»Dieses Kind verbirgt ein Geheimnis!«, dachte Laurence und wandte sich ab.
Jean-Louis erwartete sie an der Anlegestelle von Mgarr an der Süd-küste von Gozo. Als sie ihn erblickte, dachte sie zunächst: »Er hat sich gar nicht verändert!« Doch gleich darauf stellte sie das Gegenteil fest. Er hatte zwar an Gewicht verloren, aber an Statur gewonnen. Von dem rebel ischen kleinen Jungen, der sie damals so dahin-schmelzen ließ, war nur noch ein Anflug geblieben. Er wirkte jetzt wie eine in sich gefestigte Persönlichkeit.
»Zusammen lachen werden wir wohl niemals wieder!«, sagte sie sich beklommen.
Er reichte ihr die Hand, und sein Blick war offen und frei. Sie war ihm dankbar dafür, dass er sie nicht umarmte. Die Befürchtung, die sie während der ganzen Reise beherrscht hatte, erwies sich als unbegründet. Sie hatte Angst davor gehabt, wieder in die Haut jener Frau schlüpfen zu müssen, die sie in einem anderen Leben gewesen und die dort in Maghrabi gestorben war.
In rascher Fahrt durchquerten sie das Hafenviertel in einem Klein-lieferwagen, den er sicher steuerte. Sie betrachtete die alten Befesti-gungsanlagen des Städtchens, die Treppengässchen, die blumenge-schmückten Terrassen und gab dazu beiläufig poetische Kommentare ab, obwohl die Sehenswürdigkeiten dieser farbenfrohen Insel keine echte Anteilnahme in ihr erweckten. Dagegen empfand sie die Nähe des wiedergefundenen Freundes an ihrer Seite nahezu schmerzhaft. Ein Freund – tatsächlich?
»Dein Vater hat einen Bericht geschrieben in meiner Angelegenheit«, sagte sie schließlich ohne Umschweife, »der wohl nicht für meine Augen bestimmt war. Er erwähnte darin auch bestimmte Informationen, die von deiner Seite gekommen sein sollen…«
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»Er hat mich über die damaligen Ereignisse befragt«, erwiderte er, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. »Ich habe
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