Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
sein, dass er sich in eine Falle locken ließ!«
»Idealist schon, aber doch nicht naiv!«
»Wir müssen ihn warnen, aber das kann nicht telefonisch geschehen, und schriftlich schon gar nicht. Man muss das unter vier Augen mit ihm besprechen. Wir müssen ungeheuer vorsichtig sein, denn das Ganze kann ein Manöver sein, um uns in Misskredit zu bringen. Ich habe da zwar schon einen gewissen Verdacht, aber darüber kann ich erst reden, wenn ich bestimmte Beweise in Händen habe …«
»Sie möchten also, dass ich dorthin reise?«
»Wären Sie denn dazu bereit? Ich bin schon mehrmals die Liste unserer Mitarbeiter durchgegangen, aber ich komme immer wieder zum gleichen Ergebnis: Sie sind einfach diejenige, die am ehesten Licht in diese Affäre bringen kann. Und wissen Sie auch, warum?«
»Das brauchen Sie mir nicht zu erklären. Wann soll ich fliegen?«
Eine halbe Stunde nach dem Abheben der Maschine bekam Laurence einen neuen Anfall. Sie sah an der Kabinenwand einen Riss erscheinen, der rasch auf das Fenster neben ihr zulief. Das Doppelfenster zersprang mit einem dumpfen Knall und löste sich in feinen weißen Staub auf. Die Kabine begann zu rütteln und weitere Risse zu zeigen. Laurence schloss die Augen und krümmte sich in Todesangst zusammen. Das Flugzeug brach auseinander, und sie wurde in zehntausend Metern Höhe hinausgeschleudert. Ein Ge-fühl der völligen Loslösung ergriff sie wie Trunkenheit, während sie in freiem Fall fiel und fiel und fiel…
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Da legte sich eine Hand behutsam auf die ihre. Ein junges Mädchen saß auf dem Sitz neben ihr und betrachtete sie mit gerunzel-ten Brauen. Sie mochte zwölf sein, auch wenn ihre wache Aufmerksamkeit sie älter erscheinen ließ. »Ob ich wohl geschrien habe?«, fragte sich Laurence mit klopfendem Herzen. Sie wusste nicht, ob das Mädchen sich aus eigenem Antrieb neben sie gesetzt hatte, und zog ihre Hand zurück, obwohl die sanfte Berührung sie beruhigt hatte.
»Es geht schon, danke! Ein plötzliches Unwohlsein, nicht so schlimm, wirklich!«
Das Mädchen sagte etwas zu ihr mit etwas heiserer Stimme.
»Ich kann leider kein Italienisch. Gabriella heißt du?«
Ein Schatten von Argwohn trat in die dunklen Augen des Kindes, das sich gewandt aus dem Sitz schlängelte und wieder den eigenen Platz zwei Reihen weiter entfernt einnahm. Laurence konnte sehen, dass sie einer ganz in Schwarz gekleideten Dame mit einem anzie-henden Gesicht und lebhaften Augen etwas ins Ohr flüsterte.
»Wahrscheinlich die Mutter«, dachte Laurence, »oder die ältere Schwester, die sie geschickt hat, um nach mir zu schauen.«
Schon in Fiumicino in der Abfertigungshalle hatte sie den Eindruck gehabt, dass diese Frau sie heimlich beobachtete. Dabei hätte sie doch wohl inzwischen daran gewöhnt sein müssen, dass sie in der Öffentlichkeit erkannt wurde. Ach wo, daraus machte sie sich doch nichts! Oder doch ›Verfolgungswahn‹? Auch wenn man das Leiden, das einem zu schaffen machte, beim Namen nennen konnte, hieß das noch lange nicht, dass es einen weniger ängstigte. Sie musste zugeben, dass sie solche Risse seit gut zwei Wochen nicht mehr ›gesehen‹ hatte; das war doch schon ein Fortschritt! Ganz abgesehen davon, dass sie nach einem solchen Anfall nicht mehr bewusstlos wurde – aber war das wirklich eine Besserung? Bewusstlos zu werden, war so schlecht noch lange nicht – eine Möglichkeit wie andere auch, sich aus der Realität auszuklinken. Und warum hatte 134
sich diese Gabriella so rasch zurückgezogen? »Sie wird gespürt haben, dass ich es nötig hatte, allein zu sein. Man sollte die Intuition von Kindern nicht unterschätzen …«
Am frühen Nachmittag trat auf der Fähre, die Valletta mit Gozo verbindet, die in Schwarz gekleidete Frau zu ihr und stel te sich mit gewinnendem Lächeln als Dora Frascatti vor.
»Ich habe sie gleich im Flugzeug erkannt«, sagte sie in etwas müh-seligem Französisch. »Sie sind doch diese Ärztin, die man als Geisel zehn Jahre lang gefangen hielt!«
»Fünf. Und Sie haben mich wohl schon in Rom bemerkt…«
»Richtig! Aber erst hinterher ging mir auf, dass wir wohl die gleiche Person besuchen wollen. Fragen Sie nicht wieso – Intuition!«
»Wen meinen Sie denn?«
»Aber natürlich ihn – den Führer, El Guía!«
Mit leuchtenden Augen und gefalteten Händen setzte Dora Frascatti hinzu, dass sie sich schon seit Monaten auf diese Begegnung mit dem Höchsten Führer vorbereitete. Wie hatte sie es nur verdient, ihn persönlich
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