Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
Spiegelbild in der Scheibe vor Augen, konnte sie sich nur mit größter Mühe davon abhalten, sich umzudrehen, auf diesen Hurensohn zuzustürzen, ihm Cashew zu entreißen und ihn an den Haaren zu packen, um ihn daran zur Tür zu schleifen und hinauszuschmeißen – oder gleich durchs Fenster zu werfen, warum eigentlich nicht? Eines stand fest: Gewachsen wäre ihr dieses 150
schmächtige Kerlchen nicht! Sie hatte schließlich eine Nahkampf-ausbildung genossen und würde ihn mit wenigen Griffen erledigen.
Thierry schwieg inzwischen.
Dieses Schweigen löste in Kiersten eine Jugenderinnerung aus. Sie war damals, da mochte sie vierzehn oder höchstens fünfzehn gewesen sein, mit ihren Klassenkameraden während einer Jahresabschluss-fahrt in einem Bus gesessen. Ihre Schüchternheit hatte sie zu dieser Zeit zu einer bevorzugten Zielscheibe für Hänseleien und boshafte Streiche gemacht. Im Bus hatten die Jungen der Klasse ihr die Handtasche entrissen und warfen sie sich von Sitzbank zu Sitzbank wie einen Ball zu. Sie rannte wie wild herum, um sie wiederzube-kommen. Der frechste der Burschen hatte schließlich die Tasche geöffnet und ihren Inhalt Stück für Stück in einer gespielten Ver-steigerung feilgeboten. Das Gelächter erreichte seinen Höhepunkt, als man drei Tampons entdeckte, die als ›Zigarren‹ schließlich von Mund zu Mund wanderten …
Wie hatte sie nur diesen Vorfall vergessen können? Einige Sekunden lang fühlte sie sich wie eine Zuschauerin ihrer selbst und dachte, dass diese Erinnerung bei ihrem nächsten Gespräch mit Teddybär wohl ein gefundenes Fressen für diesen sein müsste. Aber schon stiegen ihr wieder Demütigung und Zorn in die Kehle. Auf ganz ähnliche Weise hatte jetzt Thierry ihre Intimität verletzt, indem er ge-waltsam in einen Bereich eingedrungen war, der nur ihr gehörte.
Sie drehte sich mit einem Ruck um.
»Schauen Sie mir in die Augen!«
Sie konnte es nicht ertragen, ihn so mit gesenktem Nacken dasit-zen zu sehen wie einen chinesischen Dissidenten vor dem Volksge-richt. Er hob sein bleiches Gesicht.
»Warum diese Geständnisse? Wollen Sie Ihre Karriere ruinieren?
Schon wegen eines Zehntels dessen, was Sie mir da erzählt haben, 151
kann ich Sie aus der GRC rausschmeißen lassen! Warum also?«
»Sie haben mir befohlen, zu antworten. Und ich habe gehorcht.«
»Ach hören Sie auf! Fangen Sie bloß nicht wieder mit dieser Nummer an! Wenn Sie Befehle haben wollen, können Sie welche von mir kriegen! Angefangen mit…«
Sie wurde vom Klingeln des Telefons unterbrochen. Sie zögerte, nahm dann aber mit einer heftigen Bewegung den Hörer ab.
»Mama, hier ist Sandrine! Wie geht's dir? Ich habe eine gute Nachricht…«
Kiersten bedauerte sofort, den Anruf nicht ins Schlafzimmer um-gestellt zu haben. Das letzte Mal hatte Sandrine sie im Krankenhaus angerufen – und das wohl auf Veranlassung von Acoona, der Lebensgefährtin ihres Ex-Mannes Philippe. Jetzt hätte sie, wenn sich Sandrine nicht mit ihrem Namen gemeldet hätte, sie an der Stimme kaum erkannt. Der Klang hatte sich verändert, wie überhaupt ihre ganze Art. Das war kein kleines Mädchen mehr, das da mit ihr sprach, sondern ein Teil von ihr selbst, der sich losgelöst und ins Weite entfernt hatte, ein Gesicht mit verschwommenen Zügen, eine Gestalt mit zerfließenden Konturen. Und wieso sprach sie sie plötzlich mit Mama an, während sie doch bisher die Gewohnheit gehabt hatte, das geradezu betont zu vermeiden?
Kiersten sagte ihr, dass sie gerade Besuch habe und dass sie sie dann später zurückrufen würde. Sandrine stimmte zu, bestand aber darauf, ihr wenigstens ganz kurz etwas zu sagen. Dann berichtete sie, dass sie einen Aufsatz geschrieben hätte über das Verständnis der Völker untereinander… »Du verstehst, für einen weltweiten Wettbewerb, in der Form eines Offenen Briefes an meine Menschenbrüder, angeregt von diesem bekannten Gedicht Villons. Du weißt doch, so auf mittelalterlich, aber in modernem Französisch.« Kurz gesagt, da-für habe sie in ihrer Leistungsklasse den ersten Preis gewonnen und müsse ihr das ganz schnell sagen, weil das doch ein Aufenthalt in Malta zu einem großen Treffen sei. »Weißt du, vierzehn Tage, und 152
alles bezahlt!«
»In Malta? Im Mittelmeer, meinst du?«, fragte Kiersten, eine unverhoffte Pause im begeisterten Wortschwall ihrer Tochter nutzend.
»Ja, aber auf Gozo. Das gehört dazu!«
Kiersten beglückwünschte ihre Tochter, versicherte ihr, sie würde in zehn
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