Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
ausdenkst! Wer hat dir denn das mit meiner Beförderung gesagt?«
»Großpapa natürlich, wer denn sonst? Du scheinst ja die erste Frau zu sein, die in Kanada in den Rang eines Inspektors aufgestie-gen ist. Oder muss man Inspektorin sagen?«
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»Nein, üblicherweise sagt man Inspektor. Und ›erste Frau‹ gilt auch nur für die Polizei, da wollen wir doch nicht übertreiben.
Manche glauben übrigens, es müsse ›Inspekteuse‹ heißen, so wie Friseuse zum Beispiel – so ein Blödsinn!«
»Na, ich dachte, du seiest Feministin!«
»Bin ich schon, aber ich habe mir andere Prioritäten gesetzt als die Sprachreform!«
Kiersten empfand dieses Interesse beglückt als eine stärkere persönliche Annäherung ihrer Tochter, verbunden mit einer Art von Komplizenschaft, was ganz neu in ihrer Beziehung war. Aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein, denn schon wandte sich Sandrine wieder den üblichen Belanglosigkeiten zu: Dass sie wahrscheinlich wieder die Einzige sei, die beim Jahresabschlussball ein kurzes Kleid tragen würde, aber so wichtig sei das ja auch wieder nicht, »weißt du, so ein Cliquentier bin ich ja sowieso nicht; und könnten wir nicht vielleicht, wenn ich das nächste Mal in Ottawa bin, einen gemeinsamen Rundgang durch die Polizeizentrale machen?«
Kiersten antwortete, sie fände das eine prima Idee, und ließ sich abschließend, ehe sie auflegte, noch die Adresse der Stiftung geben, die den Besuch dieses Seminars zur planetarischen Bewusstwerdung in Xaghra finanzierte.
Dann saß sie eine Weile still da, die Augen ins Leere gerichtet, und versuchte sich darüber klar zu werden, was in ihr vorging. Es war nicht ganz leicht, Ordnung in dieses Durcheinander zu bringen und die Gründe zu erforschen für jenes unbehagliche Gefühl von Zweifel und Ungewissheit. War es die Unterhaltung mit Sandrine?
Oder die lange verdrängte Erinnerung an den Vorfall in früher Jugend? Oder der mehr als merkwürdige Besuch dieses Thierry Bugeaud?
»Sie können nie dem Drang widerstehen, den Dingen bis ins Kleinste auf den Grund zu gehen!«, hatte Teddybär ihr einmal ge-156
sagt. Und so war es tatsächlich. Sobald irgendetwas sie ängstigte, stürzte sie sich sofort in eine tief schürfende Zergliederung ihres Seelenzustandes …
Ihre erste Beobachtung brachte nicht viel. Als sie ihre Blicke ringsum schweifen ließ, stellte sie fest, dass die mustergültige Ordnung in ihrer Wohnung sie nicht wie gewöhnlich zu beruhigen vermochte. Wäre es ihr lieber, dass jemand da wäre, der für Unordnung sorgte? Ganz gewiss nicht! Aber das war wohl wieder so ein Abend, an dem das Alleinsein ihr zu schaffen machte …
Das Verhalten Thierrys hatte sie völlig außer sich gebracht. Es war ganz richtig gewesen, ihn vor die Tür zu setzen – wieso also bedauerte sie nun, dass er nicht mehr da war? Sie hatte ihm die Meinung gesagt und ihm gezeigt, dass man sich nicht ungestraft mit einer Kiersten MacMillan anlegte. »Ich hätte meiner Wut freien Lauf lassen sollen, als ich ihn vor mir hatte!«
Das Beste wäre, gar nicht mehr weiter an diesen Übergeschnapp-ten zu denken, fand sie und wusste dabei doch sofort, dass ihr das nicht gelingen würde. Und ihre zweite Feststellung, die ihr so wenig weiterhelfen würde wie die erste, war, dass dieser Thierry ihr auch noch gefiel.
Sie erinnerte sich daran, dass sie, als man vor ihr den Verdacht ge-
äußert hatte, er sei homosexuell, »Wie schade!«, gedacht hatte – so wie damals in Rom diese niedliche Journalistin (wie hatte die doch noch einmal geheißen? Lydia soundso) von ›Verschwendung‹ gesprochen hatte in Bezug auf den Sohn des Botschafters, Frédéric Delagrave. Denn Thierry war ein hübscher Bursche mit seinen leicht schlitzförmigen Augen und der überraschenden graugrünen Iris darin. Wieso hatte er sich nicht an sie herangemacht wie ein normaler Mann? (Gut, ›normal‹ war vielleicht nicht unbedingt der richtige Ausdruck, aber sie wusste schon, was sie damit meinte.) Sein Vorgehen war mehr als ein Spiel, dessen war sie sich nun sicher. Er war bereit, sie als seine ›Herrin‹ anzuerkennen in einer Be-157
deutung dieses Wortes, die sie störte. Sie sah in diesem Angebot zur Unterwerfung etwas Ungehöriges, das ihrem eigenen Wesen gänzlich fremd war. Und sie begriff nun – ihre dritte Entdeckung
– auch, dass Thierry Recht gehabt hatte mit seiner Andeutung, dass sie ihn nur deswegen hinauswerfe, um der Beantwortung der Frage auszuweichen, ob sie nicht doch
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