Bin ich hier der Depp
sie nur lang genug dem Trommelfeuer der eigenen Wünsche und Erwartungen aussetzen, dann knicken sie ein. Eine Grenze, die keinen Widerstand aushält, eignet sich für Arbeitsüberfälle.
Seien Sie als Zöllner Ihres eigenen Lebenslandes standhaft! Keinen Wunsch, keine Erwartung, keine Forderung sollten Sie einfach durchwinken. Nehmen Sie sich die Zeit, solche Ansinnen wie einen verdächtigen Koffer bei der Gepäckkontrolle am Flughafen zu durchleuchten. Will die Firma Ihre Grenzen verletzen, Sie für ihre Zwecke missbrauchen und überfordern? Dann lassen Sie Ihren Schlagbaum runter und sagen Sie einfach »nein« (wie das im Detail geht, lesen Sie ab Seite 330).
Und, ganz wichtig: Machen Sie keine Ausnahmen! Ich wiederhole: Machen Sie keine Ausnahmen! Sonst sind Ihre inneren Gesetze nur noch »wie Spinnweben, die kleine Fliegen fangen, aber Wespen und Hornissen entkommen lassen« (um es mit dem irischen Autor Jonathan Swift zu sagen).
Eine Klientin von mir, Reisekauffrau, nahm sich seit Jahren vor, um 17 Uhr Feierabend zu machen. Das war ihr wichtig, um den Anschluss an ihre geliebte Radsportgruppe wieder zu finden. Seit Jahren fuhr ihr das sportliche Leben im wahrsten Sinne davon: Die Gruppe brach um 17.30 Uhr auf, wenn sie gerade erst den Heimweg antrat.
Der Sport fehlte ihr. Sie wälzte trübe Gedanken, setzte Übergewicht an und fühlte sich nicht mehr wohl in ihrem Körper. Mehrfach hatte sie den Feierabend um 17 Uhr angekündigt – und damit eine Grenze gesetzt. Aber immer wieder gelang es dem Büroleiter, sie von ihrem Vorsatz abzubringen. Ihre Arbeitsgrenze ließ sich beliebig dehnen, mal um eine halbe Stunde, mal um eine Stunde, mal um zwei Stunden. Weil sie ihre Grenze nicht verteidigte, konnten die Erwartungen der Firma ungehindert eindringen.
Im Coaching hatte sie in ihrem Selbst-Vertrag festgehalten, jeden Tag nun tatsächlich um spätestens 17 Uhr zu gehen. Aber wie konnte es ihr glücken, ihre Grenze effektiver zu verteidigen?
Ich fragte sie: »Gibt es Kollegen, die ihre Grenzen konsequenter als Sie setzen?« Sie erzählte mir von einer Kollegin, die jeden Tag um Punkt 16.15 Uhr ging, um ihre Tochter von der Kinderkrippe abzuholen. Alle wussten, dass die Kollegin um diese Zeit gehen musste. Alle sahen, dass sie jeden Tag um diese Zeit ging. Alle anfänglichen Versuche, sie länger festzuhalten, waren gescheitert. Seither rannte niemand mehr gegen ihre Grenze an.
Und so kam die Reisekauffrau auf eine Idee: Sie gründete eine Fahrgemeinschaft mit Kollegen aus einer anderen Firma, darunter einer Freundin aus der Radsportgruppe. Genau um 16.45 Uhr musste sie die Firma täglich verlassen. Das hatte sie nicht nur mündlich, sondern auch in einer Rundmail bekannt gegeben.
Natürlich wurde ihre Grenze hart attackiert – schließlich war sie als inkonsequente Zöllnerin bekannt! Um 16.30 Uhr warf ihr der Chef noch komplizierte Reklamationsanfragen auf den Tisch, dann kam es zu Dialogen wie diesem:
»Gerne werde ich mich um diese Reklamation kümmern – morgen früh.«
»Aber ich brauche das heute Abend noch. Das ist dringend.«
»Dann müssen Sie den Auftrag jemand anderem geben. Ich gehe um 16.45 Uhr.«
»Das ist jetzt aber nicht Ihr Ernst! Sie wollen, dass die Kolleginnen Ihre Arbeit mitmachen?!«
»Ich mache meine Arbeit jeden Tag 8 ½ Stunden. Und um 16.45 Uhr muss ich gehen.«
»Glauben Sie bloß nicht, dass ich mir das bieten lasse!«
»Ich halte mich an meinen Arbeitsvertrag. Und um 16.45 Uhr muss ich gehen.«
Nach ein paar Gesprächen dieser Art gab der Chef es auf: Er spürte, dass diese Grenze nicht zu knacken war. In diesem Dialog wandte die Reisekauffrau eine rhetorische Technik an, die sich »gesprungene Schallplatte« nennt: Sie wiederholte ihre Kernaussage (»um 16.45 Uhr gehen«) immer wieder, statt sich zu rechtfertigen oder nachzugeben.
Die Fahrgemeinschaft diente der Kauffrau als Krücke, um ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Nach ein paar Monaten hatte sie so gute Erfahrungen mit ihrer Grenzsetzung gemacht, dass sie mutig verkündete: »Ich bin nicht mehr Teil der Fahrgemeinschaft, behalte aber meinen Feierabend um 16.45 Uhr bei.«
Inzwischen war sie als konsequente Zöllnerin bekannt. Alle neuen Versuche, die Grenze zu überrennen, blockte sie ab. Und es dauerte gar nicht lange, bis die Grenze respektiert wurde. Ihr Selbstbewusstsein ist seither enorm gewachsen. Die Qualität ihres Lebens auch.
Wie Sie sich vor Selbstausbeutung schützen
Nicht immer wird eine Grenze
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