Bin ich hier der Depp
Fast dreißig Jahre lang toure ich durch die Lande und erzähle Hunderttausenden von Menschen, wie sie mit Stress, Komplexität und den steigenden Anforderungen besser zurechtkommen. Millionen Menschen lesen meine Bücher und sehen mich im Fernsehen, und ich versuche, Stresskompetenz zu vermitteln, wo es nur geht. Und das Ergebnis? Immer mehr Stresskranke!« [38]
Papst Seiwert holte zum Rundumschlag aus. Den Mitarbeitern rief er zu: »Wer von Stress geplagt und von Burn-out bedroht ist, braucht keine Techniken zur Selbstorganisation. Er muss seinen Blick für die Steuerung von außen sensibilisieren und schärfen.« Und den Führungskräften schrieb er ins Stammbuch: »Erfolg auf Kosten der Gesundheit ist keine Heldentat.« [39]
Ein verrückter Vorgang: Da bastelt einer jahrzehntelang an seinem Ruhm als Papst des Zeitmanagements – um seinen Thron dann selbst einzureißen. Noch dazu mit einer Titelzeile, die sicher nicht nur das Austicken der Uhren, sondern auch das Austicken, Ausrasten, Durchdrehen einer vor Stress vibrierenden Arbeitswelt meint.
Und recht hat er, der Mann! Immer wieder fällt mir auf, dass unfähige Firmen sich ins Zeitmanagement flüchten, statt die eigentlichen Probleme zu lösen. Wenn ein Mitarbeiter von allen Seiten mit Arbeit beschossen wird, wenn er wankt und taumelt, dann kommt niemand auf die Idee, diesen Beschuss zu reduzieren. Niemand stellt kritische Fragen zur Arbeitsmenge. Niemand zweifelt an der Kompetenz des Vorgesetzten.
Nein, dann wird ein Seminar in Zeit- oder Stressmanagement als Wundermedizin verschrieben. Damit wandert die Verantwortung vom Chef zum Mitarbeiter: Dein Problem – nicht meines! Als wäre es möglich, Mitarbeiter gegen Stress, Überforderung und Burn-out zu impfen. Als gingen Menschen ins Zeitmanagement-Seminar rein, und Übermenschen kämen raus.
Ein Chef, der solche Kurse verordnet, erinnert mich an einen Rettungsschwimmer, der die Schreie eines Ertrinkenden hört. Doch statt ihn aus dem Wasser zu ziehen, wirft er ihm einen Gutschein für einen Schwimmkurs zu – und schimpft dann, weil der Strampelnde dennoch versinkt.
Arbeit in zu hohen Fluten kann Mitarbeiter ersäufen; gegen diese Bedrohung helfen keine Schwimmkurse und kein Zeitmanagement. Es kommt darauf an, den Arbeitsplatz erst gar nicht zum tosenden Arbeitsmeer werden zu lassen.
Mit Zeitmanagement- und Multitasking-Kursen vermitteln Firmen die Botschaft: Der Stress kann nie zu groß sein – nur die Kompetenz des Mitarbeiters, ihn zu bewältigen, zu klein. Wer von seiner Arbeit geschafft wird, statt sie zu schaffen, hat seine Lektion in Zeitmanagement nicht ausreichend gelernt. Note Sechs, setzen!
Die meisten Firmen täten gut daran, nicht ihren Mitarbeitern Kurse in Zeitmanagement zu verschreiben, sondern sich selbst Vernunft! Wenn die Mitarbeiter in ihrer Arbeit untergehen, gibt es nur zwei Rezepte: Weniger Arbeit – oder mehr Mitarbeiter. Alles andere ist Doktern an Symptomen.
Doch auf viele Unternehmen trifft eine Erkenntnis des britischen Philosophen Bertrand Russell zu: »Die moderne Menschheit hat zwei Arten von Moral: eine, die sie predigt, aber nicht anwendet, und eine andere, die sie anwendet, aber nicht predigt.« Gerade bei Unternehmen, die auf Zeitmanagement schwören, beobachte ich: Gleichzeitig sparen sie Stellen ein, setzen engere Termine, erhöhen den Druck – sie stoßen ihre Mitarbeiter in die Fluten. Und wenn die Mitarbeiter sinken, wenn ein Termin verpasst, ein Projekt gescheitert, ein schwerer Fehler passiert ist, dann liegt es am mangelnden Zeitmanagement der Mitarbeiter. Nicht daran, dass sie ins Wasser geschubst wurden.
Die Chefs sollten sich an die eigene Nase fassen, ihre Ansprüche, ihre Terminvorgaben und ihre Personalpolitik hinterfragen. Dann wäre das Problem zurück an den Absender geschickt: die Chefetage. Mit schönen Grüßen vom Papst!
Hamsterrad-Regel: Ärzte schicken Todkranke in ein Hospiz, wenn nichts mehr zu retten ist – Chefs ihre Mitarbeiter in ein Zeitmanagement-Seminar.
Der überfahrene Mitarbeiter
Ein misslungener Multitasking-Versuch war es, der den Schriftsteller Stephen King um ein Haar ins Jenseits befördert hätte. Neunmal wurde sein Unterschenkel gebrochen, achtmal seine Wirbelsäule. Vier Rippen zersprangen, seine Hüftpfanne wurde aus der Achse gedreht, und eine Riesenwunde klaffte an seinem Kopf.
Der Mann, der ihn so demolierte, hieß Bryan Smith. Er hatte versucht, zwei Dinge zur selben Zeit zu tun: einen Lieferwagen zu steuern
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