Bin ich hier der Depp
Arbeitsverkehr.
Dass sich Menschen zu Tode arbeiten, ist mehr als eine Redensart. Der Tod durch Überarbeitung hat einen Namen: Karoshi. Seit den 1960er Jahren treibt er in Japan sein Unwesen. Damals war aufgefallen: Immer mehr Mitarbeiter traten ihren Heimweg von der Arbeit nicht in der U-Bahn, sondern im Leichenwagen an, dahingerafft von Hirnblutungen, Herzinfarkten, Schlaganfällen. [50]
Aber was löste diese plötzlichen Tode aus? Die japanischen Behörden gingen wie bei einem Mord vor: Sie sammelten Indizien, suchten nach den Tätern. Und schnell führte sie die Spur zu den Arbeitgebern der Verstorbenen.
In der japanischen Kultur steht das Wohl der Allgemeinheit über den Bedürfnissen des Einzelnen. Offenbar redeten die japanischen Firmen ihren Mitarbeitern ein, harter Arbeitseinsatz diene dem Wohl der Nation. Auch wenn dieses »Wohl« sich nur auf den Bankkonten der Unternehmer zu Millionen summierte.
Die Menschenfänger in Chefgestalt gingen raffiniert ans Werk. Vordergründig gaben sie sich um die Gesundheit ihrer Mitarbeiter besorgt, veranstalteten Massengymnastik auf dem Hof und luden zu Kurzschläfchen in den Pausen ein. Die Menschen fühlten sich von ihrer Firma umsorgt. Und sie revanchierten sich durch knüppelharte Arbeit. Wie Maschinen funktionierten und produzierten sie, ohne Pause und ohne Rücksicht auf die eigene Gesundheit.
Diese ungleiche Arbeits-Ehe nahm oft ein tragisches Ende, der Satz »Bis dass der Tod euch scheidet« wurde für Mitarbeiter erschreckend wahr. Einige starben am Arbeitsplatz, andere an der Arbeit zu Hause.
Der Tod durch Überarbeitung geht in Japan bis heute um. Im Herbst 2007 besuchte eine Filialleiterin (41) von McDonald’s zur Weiterbildung eine andere Filiale. Dort brach sie mit einer Gehirnblutung zusammen und starb. Die Behörden ermittelten: Die Frau hatte in den Monaten zuvor im Schnitt über 80 Überstunden geleistet. Unbezahlt. Zwei Jahre später stand offiziell fest: »Karoshi« – womit die Firma ein großes Imageproblem hatte; und die Hinterbliebenen Anspruch auf eine Rente. [51]
Ähnliche Fälle sind aus der Automobilindustrie bekannt. Der 30-jährige Toyota-Mitarbeiter Kenichi Uchino war mit Herzversagen zusammengebrochen, nachdem er im Arbeitsmonat davor 106 Überstunden geleistet hatte. Seine Firma hatte ihn in einen Qualitätszirkel beordert und für den reibungslosen Betrieb eines Fließbandes verantwortlich gemacht – worauf er jeden Tag vier Überstunden leistete. Nach Hause gekommen war er nur noch zum Schlafen.
Fast jeden zweiten Tag, 150 Mal im Jahr, stirbt in Japan ein Mensch an Überarbeitung. Auch bei Selbstmorden prüfen die Behörden akribisch, welche Rolle die Arbeit dabei spielt. Für Karoshi gelten feste Kriterien: Wer im Monat vor seinem Tod 100 Überstunden geleistet hat oder durchschnittlich 80 in den Monaten davor, wird als Opfer anerkannt.
Der Tod durch Überarbeitung, ein Meister aus Japan? Ach was! Viele Anhaltspunkte gibt es, dass er seit Jahren durch Deutschland spaziert, völlig unbehelligt von den Behörden. Stirbt ein Mitarbeiter, gilt das noch immer als seine Privatsache und kostet die Firma allenfalls eine Todesanzeige – selbst dann, wenn sie ganz offensichtlich zum Tod des Mitarbeiters beigetragen hat.
Nach Schätzungen geht jeder fünfte Selbstmord in Deutschland auf Schikane im Beruf zurück. [52] Warum ermitteln die Behörden so gut wie nie gegen Firmen? Warum ist es in Deutschland verboten, einen Menschen mit einer Waffe zu töten, aber erlaubt, ihn mit Arbeit umzubringen?
Die Wirtschaft geht über alles, auch über Leichen. Ein Beispiel ist die »Gefährdungsbeurteilung« nach dem Arbeitsschutzgesetz, die Firmen seit 1996 für jeden Arbeitsplatz durchführen müssen: Welche Risiken bestehen für die körperliche und seelische Gesundheit der Mitarbeiter? Und wie lassen sie sich vermindern?
Doch Papier ist geduldig, und die Behörden sind es offenbar auch. Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung ergab: Die Hälfte der 2200 befragten Unternehmen lassen die gesetzlich vorgeschriebene Gefährdungsbeurteilung sausen. Und auf die Idee, auch die psychologische Belastung der Mitarbeiter zu überprüfen, kam nur einer von vier Betrieben. [53]
Dass sich niemand einen Finger in der Maschine quetscht, darauf achten die Firmen. Aber dass Seelen zermalmt werden, übersehen sie großzügig, Motto: Psychische Belastung gibt es überall, nur nicht bei uns! »Der eigene Hund macht keinen Lärm – er bellt nur«, schrieb Kurt
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