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Bin ich hier der Depp

Bin ich hier der Depp

Titel: Bin ich hier der Depp Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Wehrle
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keiner tun will, bleibt hängen am Azubi, dem Zwerg in der Hierarchie. Nun hat er zwei Möglichkeiten: Er tut, wozu er aufgefordert wird, damit lässt er seine eigentliche Ausbildung schleifen. Oder er protestiert dagegen, was mit Sicherheit dazu führt, dass der Chef auf die heutige Jugend schimpft und ihm eine schlechte Erziehung unterstellt.
    Ein Auszubildender aus dem Frankfurter Raum hat Folgendes erlebt: Er fing bei einem Mittelständler an, um den Beruf des Industriekaufmanns zu lernen. Schon bei der Ausschreibung hatte er sich gewundert, dass »fortgeschrittene Computerkenntnisse und Interneterfahrung« gefragt waren. Was es damit auf sich hatte, erfuhr er am ersten Arbeitstag: »Wir sind ein kleiner Betrieb«, sagte der Chef. »Hier muss jeder alles machen. Und von Ihnen wünsche ich mir, dass Sie sich nebenbei ein wenig um die Computerangelegenheiten kümmern.«
    Das klang nicht schlecht, denn er war Computerfreak! Statt den ganzen Tag über Bilanzen zu brüten, würde er an Computern basteln können. Doch der scheinbare Segen entpuppte sich als Fluch: »Ich war kaum im Büro, da rief schon der erste Kollege: ›Jan, ich habe mir einen Virus eingefangen, kommst du mal rüber!‹ Und der nächste rief: ›Und wenn du fertig bist, richtest du mir dann den Drucker ein?‹ Und wieder ein anderer: ›Mein Laptop lässt sich nicht mehr hochfahren – schaust du mal?‹«
    Die Firma hatte 150 Angestellte, aber keinen eigenen Informatiker. Diese Rolle übernahm der Azubi (wie schon sein Vorgänger). Das kostete nicht 55 Euro die Stunde wie beim Computerservice, das war fast umsonst!
    Und so fing die Ausbildung erst gar nicht an, obwohl der Azubi jeden Tag zur Arbeit kam: »Bald war keine Rede mehr davon, dass ich eigentlich hier war, um Industriekaufmann zu lernen. Niemand erklärte mir eine Bilanz. Niemand zeigte mir Buchhaltung. Niemand erläuterte mir, wie eine Kalkulation funktioniert und wie man ein Angebot schreibt.« Vielmehr werkelte der angehende Kaufmann von früh bis spät an Computern herum. Täglich gab es Probleme, weil die Computer uralt waren und die Software-Programme schon fossilen Wert aufwiesen. Manche Dokumente, die von Kunden geschickt wurden, ließen sich mit der veralteten Software nicht einmal mehr öffnen. Anscheinend war die Firma zu geizig, ihre Geräte auf den neusten Stand zu bringen.
    Daher schien es wie eine gute Nachricht, als der Geschäftsführer verkündete: »Wir bekommen neue Computer!« Aber wer war dafür zuständig, die Daten von den alten auf die neuen Computer zu spielen? Wer musste die Drucker anschließen, die Mitarbeiter in die neuen Geräte einweisen? Und wer war wochenlang mit der Einführung beschäftigt und wurde angeschnauzt, wenn etwas nicht klappte? Der Azubi!
    Die Rechnung bekam er in der Berufsschule präsentiert: »Die Lehrer setzten voraus, dass wir Grundkenntnisse aus den Firmen mitbringen. Aber ich hatte null Ahnung. Und so fiel dann auch mein Zwischenzeugnis aus.«
    Der Chef reagierte gelassen, als er die vielen Vierer und die vereinzelten Fünfer sah: »Sie sind halt ein Praktiker! Hier in der Firma erlebe ich Sie als wertvoll.«
    Doch die Eltern des Jungen, die mir seine Geschichte erzählt haben, machten nun Druck: Er dürfe nicht länger mitspielen. Also sagte er zu seinem Chef: »Ich werde durch die Prüfung fallen, wenn ich hier nicht endlich etwas lernen kann. Ich möchte mich nicht mehr um die Computer kümmern!«
    »Aber unter anderem dafür habe ich Sie doch eingestellt!«, sagte sein Chef. »Das stand doch in der Stellenausschreibung!«
    »Aber ich will hier einen Beruf lernen. Ich bin Auszubildender!«
    »Vor allem sind Sie frech! Sie verweigern gerade die Arbeit.«
    Von diesem Tag an sah ihn der Chef als Unperson. Und die Kollegen waren sauer, weil er sie mit ihren Computerproblemen angeblich »hängen ließ«. Niemand hatte Zeit für seine Fragen. Und wenn er Aufgaben bekam, wurden sie so schlecht erläutert, dass er sie nur falsch machen konnte. Die Noten in der Berufsschule blieben schlecht. Der Chef reagierte nicht mehr gelassen, er schimpfte: »Für was hab’ ich Sie eigentlich freigestellt?!« »Freigestellt« war gut!
    Nach sechs Wochen war der junge Mann zermürbt: Er warf seine Ausbildung hin! So geht das oft: Jeder vierte Lehrling in Deutschland brach 2011 seine Ausbildung ab, wie eine Auswertung des Bundesinstituts für Berufsbildung ergab. [106] Offensichtlich hängt es mit dem wachsenden Arbeitsdruck zusammen; zu Beginn der

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