Bin Ich Schon Erleuchtet
auch Hitler. Er ist der Milkshake und er ist der Hühnerdarm. »Der niedere Vogel«, fuhr sie mit betrübtem Kopfschütteln fort, »wünscht sich nichts sehnlicher als die Illusionen dieser Welt, und so muss er neben der Freude auch das Leid erfahren.«
Sie schien nachzudenken. »Aber der höhere Vogel«, sagte sie dann, »ist von allen weltlichen Illusionen und weltlichen Begierden losgelöst und darum in Frieden.«
Jessica seufzte und senkte respektvoll den Kopf. Ich machte es ihr nach und betrachtete meine Hände, während ich versuchte herauszukriegen, wovon zum Teufel Indra redete.
Ich glaube, ich hab’s kapiert. Es ist anders als in der jüdisch-christlichen Tradition, wo der Teufel auf der einen und der Engel auf der anderen Schulter sitzt. In den Upanischaden sitzen der Engel und der Teufel auf derselben Schulter und versuchen, einen an die Welt zu binden und davon zu überzeugen, dass man von allen anderen getrennt ist. Auf der anderen Schulter sitzt losgelöst von Freude und Schmerz der höhere Vogel und chillt. Der höhere Vogel hat gewissermaßen den Überblick. Er sitzt nicht auf der Schulter, sondern ein Stück darüber, auf dem Schulterpolster. Der niedere Vogel hockt verwirrt und desorientiert im Getümmel des Lebens.
»Das Schöne«, sagte Indra und strahlte in die Runde, »ist, dass ihr, sobald ihr euch von dem Milkshake losgelöst habt, über die Hühnergedärme hinweg oder mitten in sie hineintreten könnt und nichts dabei fühlt. Wie es der höhere Vogel tun würde.«
Daraufhin forderte uns Lou auf, zu unseren Matten zurückzukehren und mit dem ersten Sonnengruß des Tages zu beginnen. Und gerade als ich auf meiner Matte stand, hörte ich Indra mit ihrer freundlichsten Stimme sagen: »Ach, und Suzanne! Denk daran: Ein Kundalini-Durchbruch bedeutet noch lange nicht, dass du das Rennen gewonnen hast.«
Später
Jessica ist außer sich. Sie hat zu Hause auf der Veranda gleich fünfzig Sit-ups als Buße für den Milkshake gemacht. Aber dann ist sie aufgestanden und hat sich zu mir an den Tisch gesetzt und gesagt: »Suzanne, ich weiß, dass wir uns den Milkshake nicht wünschen sollen, aber seit Indra das über den niederen und den höheren Vogel gesagt hat und dass wir von dem Milkshake losgelöst sein sollen, kann ich an nichts anderes mehr denken. Ich will unbedingt noch einen!«
Ich antwortete, sie habe gerade sehr hübsch zusammengefasst, was es bedeute, als Katholikin aufzuwachsen.
Aber dann erinnerte ich mich an etwas: Indra ist meine Lehrerin, sie weiß, wovon sie redet. Ein Kundalini-Erwachen ist nicht genug. Ich brauche noch eins. Und das geht nur, wenn ich auf dem Pfad bleibe. Ich sah also Jessica in die Augen und sagte: »Wir können es machen wie die meisten Katholiken, die ich kenne, und aus lauter Protest zehn Kokosnuss-Vanille-Milkshakes trinken, oder wir können uns folgendes vergegenwärtigen.« (Ich kam mir kolossal weise vor, wie eine echte Yoga-Lehrerin.) »Der Milkshake, Jessica, existiert nicht. Er ist nicht real, weshalb sollten wir ihn also begehren? Was ist wirklich?« Das war eine rhetorische Frage. »Wirklich ist das Selbst, und um das zu erlangen, sind wir hier. Vereinigung mit dem Selbst. Befreiung vom Begehren. Durch das Begehren haften wir am Leben, und die Anhaftung an das Leben führt zur Todesfurcht. Keine Milkshakes mehr, Jessica. Zurück auf den Pfad.« Ich legte die Hände zum Namaste zusammen und hob sie zu den Lippen. »Zurück auf den Pfad«, wiederholte ich. Dann ging ich ins Haus und dachte: Daran soll sie jetzt mal kauen .
Hmm. Ich wollte das aufschreiben, weil ich echt stolz auf mich war, dass ich so gehaltvolle Worte gedacht und an meine Freundin weitergegeben hatte. Aber jetzt, wo ich es noch mal lese, frage ich mich, ob da wirklich die weise Frau aus mir gesprochen hat oder nicht doch eher die Schwafelbacke.
Ehrlich gesagt, ist mir das etwas peinlich, aber ich glaube wirklich an das, was ich zu Jessica gesagt habe. Es ist an der Zeit, wieder auf den Pfad zurückzugehen und auf ihm zu bleiben. Wir haben nur noch knapp einen Monat Zeit und müssen bald unsere Lehrerausbildung anfangen. In wenigen Wochen werde ich als Yoga-Lehrerin allein für eine ganze Klasse verantwortlich sein. Deshalb habe ich heute mit Jessica geübt. Na gut, vielleicht klang ich ein bisschen gehässig, aber eine echte Yoga-Lehrerin muss wahrscheinlich so klingen. Vielleicht haben sich meine Ohren bloß noch nicht daran gewöhnt. Weil sie von Ironie und Zynismus verstopft
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