Bin Ich Schon Erleuchtet
über ihm schwebte. Es war Ambrosia. Ein Milkshake für die Götter. Er ließ mich an Gott glauben, besser gesagt, an einen gütigen Gott, der unser Glück will. Mir fielen meine Geschwister ein, und ich musste lachen. »Jess«, sagte ich, »dies ist der Beweis dafür, dass es einen Gott gibt.«
Sie nickte selig. »Göttlicher geht’s nicht.«
Nicht zu dick, nicht zu flüssig, eine subtile Verschmelzung von Kokosnuss und Vanille. Er schmeckte wie eine Eiswaffel. Die altmodische Waffel, nicht die mit Zucker oder die dicke, gerollte, sondern die billige Waffel, die meine Eltern uns in unserer Kindheit kauften, als Eiswaffeln noch ein Symbol für das Wochenende oder die Ferien oder andere Zeiten waren, in denen wir von der rigiden Anti-Zucker-Diktatur in unserer Familie befreit waren. Ich nippte an meinem Milkshake und war wieder fünf.
Wie etwas, das mir das Gefühl gibt, von Gott geliebt zu werden, schlecht sein kann, begreife ich nicht.
Ach je.
Damit wir es nicht vergessen: Im yogischen Lifestyle sind bestimmte Dinge verboten, unter anderem Fleisch, Alkohol, Koffein, Zucker und joie de vivre .
Heute früh räumten Jessica und ich vor dem Unterricht wie zwei brave, karmabewusste Yoginis die Gamelan-Instrumente zur Seite und ließen uns dazu hinreißen, unseren Mit-Yogis von unserer kurzen Rebellion zu erzählen. Wir hatten die besten Absichten, ehrlich. Wir versuchten nicht, sie zu korrumpieren, wir wollten erleuchten.
Jessica erklärte gerade, dass dieser Milkshake sich wie ein Kokosnuss-Vanille-Orgasmus angefühlt hatte, als Indra und Lou eintraten. Bei ihrem Anblick wurden unsere Mit-Yogis nervös, und das muss bei Jessica Gewissensbisse ausgelöst haben, denn als wir in der Runde saßen, passierte etwas Schreckliches. Jessica beichtete.
Lou hob flüchtig den Blick und beschäftigte sich dann wieder eingehend mit seinen Fersen, die er mit den Daumen bearbeitete. Aber Indra stellte sich noch aufrechter hin, neigte den Kopf ein wenig und ließ den Blick zwischen Jessica und mir hin und her wandern. »Ein Kokosnuss-Vanille-Milkshake«, sagte sie.
Ein Heroin-Koks-Junkieblut-Cracknutten-Shake?
Wir nickten. »Dann überlegen wir doch mal.« Sie betrachtete angelegentlich die Deckenbalken. »Woraus besteht ein solcher Milkshake? Er ist bis zum Rand voll mit Kokosnuss. Und Vanille. Und Zucker?« Als sie den Blick senkte, wirkte sie fasziniert und angewidert. »Und es macht Spaß, süße Sachen zu trinken, oder? Habt ihr nicht Lust auf mehr Shakes? Hättet ihr nicht gerne jetzt gleich einen?«
Wir nickten. Und dann wurde es ein bisschen skurril.
»Ihr habt doch sicher heute den Mann draußen vor dem Wantilan gesehen, ja? Der die toten Hühnchen ausgenommen hat?«
Ich fand Indras Frage, ehrlich gesagt, ziemlich seltsam. Der Mann mit den toten Hühnchen war mir aufgefallen, das stimmt, er stand mit nacktem Oberkörper bis zu den Oberschenkeln in dem Fluss, der zwischen dem Wald und den Reisfeldern verläuft, und seine Hühnchen lagen an dem Ufer, an dem wir jeden Morgen auf dem Weg zum Unterricht vorbeikommen. Auf dem ganzen Weg lagen Hühnereingeweide, und wir mussten über sie springen, was Jessica zu lautem Kreischen veranlasste. Aber ich sah keinen Zusammenhang zwischen einem kleinen Milkshake und einem Haufen Hühnergedärm.
»Haben euch diese Hühnereingeweide nicht abgestoßen?«, fragte Indra durchtrieben lächelnd. »Gibt es etwas Ekelhafteres als die blutigen Innereien eines toten, kopflosen Huhns?« Sie schien auf eine Reaktion zu warten, die sich auch prompt einstellte – vonseiten meines knurrenden Magens. Grillhühnchen. Knusprig-goldene Haut. Dazu Kartoffelbrei und grüne Bohnen mit Butter und Knoblauch. Die Antwort lautete demnach wohl: Abgestoßen? Nein, eigentlich nicht .
Indra ignorierte den Gastkommentar meines Magens. »Wenn ihr weltliche Genüsse wie Milkshakes erleben wollt, müsst ihr auch die Abscheu gegen Hühnergedärme erleben.«
Sie zitierte aus dem Gedächtnis die Upanischaden:
Wie zwei Vögel auf einem Ast,
So weilen in einem Körper, innig vereint,
Ego und Selbst.
Der Erste kostet die süßen und sauren Früchte vom Baum des Lebens,
Während der Zweite wunschlos zusieht .
Diese beiden Vögel, erklärte Indra, der höhere und der niedere Vogel, repräsentieren die Welt der Anhaftung und Trennung beziehungsweise die des untrennbaren Selbst. Der niedere Vogel ist die materielle Welt und alles in ihr, das Gute wie das Schlechte. Der niedere Vogel ist Gandhi, aber er ist
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