Bin Ich Schon Erleuchtet
so dass ein herrlich rundes und volles Om zu den Dachbalken aufsteigt – sozusagen die Stimme der unteilbaren Einheit. Wir chanten ein so schwingungsreiches Om, dass daraus ein Universum entstehen könnte. Ein Om wie das Wort, mit dem alles anfing.
Wir mussten nicht einmal darüber reden, wir haben dieses Om täglich neu erschaffen. Dann kamen Marianne und SuZen. Wie Marcy es beim Mittagessen heute formulierte: »Ich glaube, sie raffen es nicht. Ich will ja nicht elitär sein oder so, weil jede schließlich ihre eigene Methode hat, aber ich glaube, sie haben die Urklänge missverstanden.«
Ich habe keine Ahnung von Urklängen, ich kann nur sagen, es klingt, als wollten sie sich beim Chanten die Nebenhöhlen freirotzen. Es ist ein sehr harter, nasaler Klang, den sie vor und nach jeder Klasse produzieren. Aber Marcy besteht darauf, dass sie die Urklänge überbetonen. Die Urklänge sind die drei Klänge des Om. Wenn man langsam Om sagt, stellt man fest, dass es aus einem Ah und einem Oh besteht, das dann zum Oh…m führt. Marcy sagt, dass manche Leute deshalb Aum schreiben.
Dahinter steckt der Gedanke, dass diese Vokale im Om schon enthalten sind. Man muss die Urklänge nicht betonen, weil sie schon da sind. Marianne und SuZen hingegen chanten mit ihren dünnen, näselnden Stimmen ihr AAAAAAAHHHHHHH, und dann wechseln sie zu OOOOOOHHHH, die Lippen gespitzt wie Aufblaspuppen. Und dann landen sie auf einem kurzen, scharfen MMM. Wenn man neben ihnen sitzt und versucht, das verlorene Gruppen-Om wiederzufinden, fühlt man sich, als wolle man in einem wunderbar weichen Bett wegdämmern, während einem eine Hornisse ins Ohr surrt.
»Ja, Mann, die machen wirklich beschissene Oms«, bestätigte Jason.
Und das Schlimmste ist: Ich glaube, ihr Om ist ansteckend. Indra scheint sich infiziert zu haben.
Der Countdown zum Yoga-Lehrer-Dasein hat begonnen. In unseren Nachmittagsklassen befassen wir uns mit den Muskeln im menschlichen Körper und betasten anschließend unsere Nachbarn, um festzustellen, ob sie sie haben. Unsere Lehrerin SuZen scheint sich nicht besonders für Anatomie zu interessieren. Ich glaube, sie würde lieber ein Existenzgründer-Seminar abhalten und uns erzählen, wie man sein eigenes Yoga-Branding kreiert.
Ich habe heute im Wantilan die meiste Zeit damit verbracht, im Geist eine Mail an Jonah zu verfassen. Ich glaube, er würde SuZen für schrecklich aufgeblasen halten.
Später
Ich habe versucht zu meditieren, aber unsere Tage sind neuerdings so voll, dass kaum Zeit dafür bleibt. Ich hatte gehofft, ein paar ungestörte Minuten auf der Veranda zu haben, aber Jessica kam ganz aufgelöst und verstört nach Hause – sie war wegen SuZens Anatomieklasse mit Indra aneinandergeraten. Sie will nicht daran teilnehmen. Jessica hat für ihre Ausbildung zur Body-Workerin massenhaft Anatomiekurse absolviert. Sie könnte wahrscheinlich den Unterricht schmeißen.
Die Sache ist die: Wir bezahlen SuZen den Anatomieunterricht extra, und Jessica will gewissermaßen die fällige Rechnung nicht begleichen. Das hat sie Indra gesagt, aber Indra hat darauf bestanden, dass sie an der Klasse teilnehmen muss. Ich vermute, dass sie und Lou SuZen eine gewisse Summe fürs Herkommen versprochen haben, und wenn Jessica nicht teilnimmt, gibt es geschäftliche Probleme.
Aber eines ist seltsam: Indra hat zu Jessica gesagt, sie habe Anhaftungsprobleme mit Geld, und durch die Ausgaben für die Anatomieklasse könne sie diese Probleme überwinden. Ich habe Jessica noch nie entrüstet erlebt, aber jetzt schäumt sie vor Wut. Sie bekam schon beim Erzählen einen knallroten Kopf und vermied jeden Augenkontakt. Sie schaute an mir vorbei, und ihre Stimme war flach und farblos.
Als ich Jessica in diesem Zustand erlebte, wurde ich stinkwütend. Ich konnte den Verdacht nicht abschütteln, dass Indra sie ausnutzt. Das äußerte ich auch, aber da fingerte sie unruhig an der Spiralbindung ihres Tagebuchs herum und antwortete: »Aber vielleicht hat Indra recht? Ich habe Probleme mit Geld. Ich bin in Armut aufgewachsen und gebe mein Geld nicht gerne her, selbst wenn es meiner Seele guttäte.«
Ich weiß nicht. Meine Seele fühlt sich irgendwie schmierig an, wenn ich darüber nachdenke. Irgendwas ist faul, wenn man dafür blechen soll, dass es der Seele bessergeht. Oder?
Gut, abgesehen von den Kosten für dieses Retreat. Und für meine Yoga-Kurse. Das ist etwas anderes. Glaube ich. Yoga-Lehrer müssen ja schließlich auch essen.
Egal. Die
Weitere Kostenlose Bücher