Bin Ich Schon Erleuchtet
ich regelmäßig.
Morgen. Morgen fange ich an!
15. April
Ich habe vor, an meine Schwester und Jonah eine Mail zu schicken:
Könnt mich jetzt einer sehn, wie ich geworden bin,
ich mampfe Kräuterreis und trinke mein Urin.
Ich kann ihre Antwort kaum erwarten.
Gleichwohl muss ich gestehen, dass mir mein neues Morgenprojekt ganz entfallen war, bis ich heute früh auf die Veranda ging und Jessica mit ihrem Starbucks-Becher sah.
Ich werde sehr viel Disziplin aufbringen müssen, denn ich merke, dass ich meine Vorsätze, eine praktizierende Pissetrinkerin zu werden, nur schwer einhalten kann. Ob es wohl genügt, einmal zu trinken – habe ich meine Organe mit einer schützenden Urinhülle umgeben und quasi versiegelt? Das wäre schön.
Die Rückkehr in den Unterricht hat mich gestern ein bisschen schockiert. Ich habe doch tatsächlich nur drei Tage verpasst. Dabei war es eine gefühlte Ewigkeit. Aber drei Tage haben ausgereicht, um eine neue Weltordnung zu erschaffen.
Zwei Frauen sind dazugekommen, die an der letzten Phase unseres Yoga-Lehrer-Trainings teilnehmen werden. Eine, Marianne, ist eine Studentin, die andere, SuZen, soll uns Anatomie beibringen.
Indra ist ganz vernarrt in sie. Sie haben beide bei ihr gelernt, und als sie »meine lieben, lieben Freundinnen Marianne und SuZen« vorstellte, klang sie regelrecht beseligt. Marianne ist in meinem Alter und gehört eigentlich auf das Cover des Yoga Journal . Zierlich gebaut, aber kräftig, mit glänzenden roten Haaren und schimmernder Haut. Sie ist die Verkörperung der in sich ruhenden Yogini – sie redet, als hätte sie früher mal jede Menge LSD eingeworfen und immer noch den einen oder anderen Flashback. »Es ist so … wow . Yeah. Es ist so unheimlich gut, wisst ihr?«, flötete sie zur Begrüßung. Sie ließ ihre dichten Haare in Kaskaden über den Rücken fließen und bedachte uns mit einem verwunderten Lächeln, als hätte sie ihre Umgebung gerade erst wahrgenommen. »So unheimlich gut. Hier zu sein.«
SuZen ist eine von Indras ältesten und engsten Freundinnen. Sie erinnert mich an eine der Amerikanerinnen, bei denen ich zu Hause mal Afro-Tanzkurse belegt habe. Klein, zottelige blonde Haare, Indianer-Tattoos auf dem Kreuz und an den Fußgelenken. Aber während die Kursleiterinnen damals handgewebte Beutel aus Guatemala oder Nepal mit sich herumschleppten, hing an SuZens Schulter eine 100-Dollar-Yoga-Tasche – sie war in einer von Laras Zeitschriften in einer Christy-Turlington-Werbung abgebildet –, aus der sie eine farblich passende Yoga-Matte holte. Sie entrollte unter unseren Adlerblicken ihr Designer-Teil und besprühte es mit irgendeinem antibakteriellen aromatherapeutischen Mattenspray. Sofort wehte der Geruch nach Teebaum- und Eukalyptusöl durch den muffigen Wantilan und mischte sich mit dem Lavendelduft ihrer aromatisierten Savasana-Augenmaske. Sie und Marianne hatten schicke Handtücher und Decken mitgebracht und breiteten um ihre Matten herum im Vorfeld des Unterrichts eine ganze Kollektion Yoga-Spielsachen aus.
Jason und ich wechselten einen Blick. Selbst Lara hob bei dieser Zurschaustellung von Yoga-Accessoires skeptisch eine Augenbraue. Nur Bärbel sagte laut: »Ihr habt ja einen ganzen Spielzeugladen nach Bali mitgebracht.« Ihre Grübchen vertieften sich. »Ich wusste gar nicht, dass man für Yoga so viele Requisiten braucht!«
Meine Mit-Yogis und ich sind im Vergleich zu den beiden ganz schön kümmerliche Gestalten. Unsere Matten haben seit Wochen Achtstundentage hinter sich, sind also alle etwas schmuddelig und pockennarbig vom Schweiß und der Reibung. Wir haben unsere Yoga-Klamotten mit der Hand gewaschen, deshalb haben sie alle diesen alternativen Touch. Niemand von uns hat Sachen mitgebracht, die auch nur annähernd den Outfits dieser Frauen ähneln. Ihre Kleidung riecht nach Geld.
Ich dachte an den höheren und den niederen Vogel und an Indras Äußerung, dass wir, wenn wir genussreichen Dingen wie Milkshakes frönen, auch Schmerz und Ekel empfinden müssen. Ich überlegte gerade, wie viel Schmerz ich für eine von Mariannes Yoga-Hosen zu empfinden bereit wäre, als wir die letzten drei Om des Tages anstimmten.
Später
Ich sitze mit Jess, Jason und Lara im Casa Luna. Wir bereiten unseren Unterricht vor. Wir sollen unserer Kursstunde einen Namen geben – er kann auch erfunden sein – und dann ein Bild dafür finden und ein paar Worte, die den Leitgedanken beschreiben.
SuZen sagt, wir sollen in der Theorie
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