Bin isch Freak, oda was?!: Geschichten aus einer durchgeknallten Republik (German Edition)
prüfenden Blicke aller anderen Diskussionsteilnehmer falle ich ihr um den Hals und drücke meine beiden Geliebten ganz fest an mich. In einer wilden Mischung aus Erleichterung und Anspannung verabschiede ich meine kühne Retterin mit einem Kuss, bevor sie von der Regie durch den Seitenausgang hinausgebeten wird.
Dann ein Blick auf meine Karteikarte. Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber im gedämpften Licht des Backstagebereichs schimmert meine Schrift bläulich – sind etwa Orks in der Nähe? Prüfend schaue ich mich um, meine Fantasie geht wohl etwas mit mir durch. Ich schüttele die wilden Gedanken ab und widme mich meinem Text, der in vier Minuten eines der komplexesten Themen der Menschheit demontieren soll – nein: demontieren wird ! Habe Mut, Möller! Du hast den Tag genutzt, dich am Verstand anderer zu bedienen und auf eine Karteikarte einzustampfen.
Ich muss mir einreden, dass mein wahnwitziger Plan aufgehen wird, denn schließlich gibt es nichts Gutes, außer man tut es! Konzentriert halte ich mir die Karteikarte vor die Nase und nutze die letzten Sekunden, um noch einmal alles durchzugehen. Als ich bei der Hälfte angekommen bin, hebt die Regiedame die Hand: Es geht los. Wir werden mucksmäuschenstill, nur Matussek demonstriert, dass ihn solche Situationen kein bisschen berühren. Fröhlich quatscht er weiter mit dem Moderator.
Dann ertönt eine Stimme aus den Lautsprechern und kündigt das Thema an: »Disput Berlin – so geht streiten! Und hier der Mann, der uns durch den Abend führen wird: Stefan Aust!«
Unter Applaus betritt der Journalist mit dem gewitzten Gesichtsausdruck die Bühne und begrüßt das Publikum. Dann werden meine Mitstreiter mit einem Zitat vorgestellt, das wir alle im Vorfeld abgeben sollten. Nacheinander treten die Gefährten ins Rampenlicht der Arena, ich wackle in kleinen Schritten immer näher auf die Tür zu. Wie beim Fallschirmspringen wird die Schlange vor mir immer kürzer.
Hach, wie viel lieber würde ich mich nun aus achttausend Metern in die Tiefe stürzen, mit zweihundert Stundenkilometern auf die Erde zurasen, mein Leben am nylonen Faden … Bin ich inzwischen vielleicht auch so eine Art Extremsportler, der in solchen Situationen den absoluten Kick sucht? Der Adrenalinpegel dürfte zumindest vergleichbar sein. Sollte ich mir also auch eine Kamera auf den Kopf schnallen, wie die Speedfreaks, die auf Motorrädern mit mehr als dreihundert Sachen auf der rechten Spur überholen oder mit einem fledermausartigen Wingsuit vom Berg springen? Nein, ich konzentriere mich lieber auf das kommende Gefecht, die große Schlacht um die Mittel der Erde.
Jetzt bin ich dran. Aus dem Türrahmen kann ich die Menge im Saal schon erkennen. Mein Puls rast, mein gesamter Körper vibriert, und meine Oberlippe zittert beim Versuch, entspannt zu lächeln.
»Außerdem zu Gast: der Pädagoge Philipp Möller.«
Das ist mein Zeichen, ich trete hinaus, kann im Scheinwerferlicht kaum noch etwas sehen, höre meinen Applaus und betrete die Bühne.
»Er sagt: Nächstenliebe gibt es auch ohne die Bibel!«
Dann sitze ich auf der Bühne, zittere noch leicht, schaue ins Publikum, bekomme kaum mit, wie nach mir der Ex-Bischof, die bunte Adlige, der Journalist mit der Wuschelfrisur und der katholische Prälat die Bühne betreten. Es kommt zur ersten Abstimmung: Wäre die Welt ohne Religion besser dran? Ja oder nein? Der Moderator will die Ergebnisse für sich behalten, weil ich jedoch neben ihm sitze, kann ich heimlich auf den Bildschirm schielen, der vor ihm steht: 36 Prozent für uns, 56 gegen uns – der Rest weiß wohl nicht, was er von Religion halten soll.
20:07 Uhr. Die Juristin aus unseren Reihen, Monika Frommel, wird als Erste ans Rednerpult gebeten. Sie erklärt, wir würden uns nur gegen organisierte Religion richten, hätten mit dem persönlichen Glauben hingegen gar kein Problem. Darauf kann ich mich gerade noch konzentrieren, der Rest geht in meiner Beobachtung des Prälaten unter, der sich die ganze Zeit grinsend die Hände reibt und immer wieder zu den neun alten Damen in den schwarzen Gewändern schaut.
20:11 Uhr. Bischof Huber betritt das Rednerpult der Gottesfürchtigen. Der Moderator erwähnt, Huber käme gerade von einer Sitzung des deutschen Ethikrats, deswegen spricht der Gottesmann wohl auch nur von Moral – aber das macht er gut! In gewohnter Kanzelrhetorik betont er Konsonanten stark, zieht Vokale in die Länge und hat mit seinem Hinweis auf die guten Beerdigungen,
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