Bin isch Freak, oda was?!: Geschichten aus einer durchgeknallten Republik (German Edition)
Noch fünfzig Sekunden bis zur roten Lampe. Nachdem ich lang genug gemeckert habe, möchte ich versöhnlich aussteigen und formuliere, wofür wir einstehen: »Wir sind dafür, dass Religion Privatsache ist, dass sie politisch, juristisch und finanziell vom Staat getrennt wird. Wir sind für eine Ethik, die sich an den Interessen des Menschen orientiert – und übrigens auch aller anderen Tiere –, statt einer gottgefälligen Moral. Wir sind für Diesseits statt Jenseits, für Heidenspaß statt Höllenqual!«
Vor allem für den letzten Pfeil, der aus Michael Schmidt-Salomons Köcher stammt, kassiere ich noch einmal Applaus. Und noch ein weiteres Mal bediene ich mich an seinem geistigen Fundus: »Wer das Atom spalten kann und über Satelliten kommuniziert, der muss die dafür erforderliche emotionale und intellektuelle Reife besitzen.« Dann schließe ich den Vortrag in meinen eigenen Worten ab: »Und eine Mythologie, die zweitausend Jahre alt ist und von einer primitiven Hirtenkultur entwickelt wurde, wird uns dabei nicht weiterhelfen. Danke schön!«
20:34 Uhr. Unter Applaus verlasse ich das Rednerpult und setze mich wieder an meinen Platz. Es ist vollbracht! Ich habe mit Stich punkten können und dabei vielleicht sogar ein paar Geister auf unsere Seite zurückgeholt.
20:35 Uhr. Die Fürstin der Farbenpracht betritt das Pult, erklärt uns ihre ganz persönliche Sicht der Dinge. »Sobald organisierter Glaube zerstört wird«, findet sie, »wird er von dem unmöglichsten Aberglauben überwuchert, von dem es jetzt wie Maden in den Wunden des Christentums wimmelt.« Außerdem gebe es in der Wissenschaft viel mehr Unglaubhaftes. Als Beispiel führt sie irgendeinen Urnebel an, der angeblich alles menschliche Wirken zwangsweise vorausbestimmt hat. Doch das Beste kommt wie immer zum Schluss: Sie zitiert einen fiktiven Dialog zwischen einem Papst und Voltaire. »Wir glauben«, heißt es darin, »dass die Menschen ohne Religion weitaus schlechter wären, als sie sind.« Das war’s. Nach inhaltsleeren neunzig Sekunden verlässt sie das Pult und verschenkt nach genau acht Sätzen (ich habe mitgezählt!) mehr als die Hälfte ihrer Redezeit.
20:37 Uhr. Deutschlands populärste Islamkritikerin, Necla Kelek, betritt das Rednerpult und zückt die vielleicht gefährlichste Waffe, die im Kampf gegen Religion eingesetzt werden kann: eine Lesebrille. Dann verschießt sie mehrere Pfeile und beweist dabei ihre Treffsicherheit. »Die Religionen versuchen, die Sinnfrage mit göttlichem Wirken zu erklären, aber inzwischen ist ihnen die Vernunft auf die Schliche gekommen. Das Licht der Aufklärung beleuchtet wieder, dass der Papst nackt ist, und nur glaubt, dass er schöne Gedankengewänder trägt.«
Nur wenig später wagt sie sich an ihr primäres Thema: »Im Namen des Islam wird die Herrschaft der Männer seit tausendvierhundert Jahren legitimiert: Frauen werden als Menschen zweiter Klasse behandelt. Ohne diese Apartheid wären sie besser dran!«
Als die Lampe nach weiteren zielsicheren Hieben schließlich auf Rot umspringt, beantwortet Kelek die Leitfrage unseres Disputs in nur einem Satz: »Wir dürfen, aber wir müssen nicht glauben – das ist Teil unserer Freiheit, und wenn die Religion das akzeptiert, dann ist die Welt besser dran.«
20:41 Uhr. Stefan Aust lehnt sich immer weiter aus dem Fenster. Nachdem er vorhin schon erwähnt hat, nicht getauft worden zu sein, bittet er nun den Prälaten Dr. Wilhelm Imkamp mit folgenden Worten auf die Bühne: »Ich glaube, er gehört zur katholischen Kirche − so wie er aussieht.«
Der Prälat geht ans Rednerpult und jagt mir mit seinem diabolischen Grinsen direkt wieder ein bisschen Angst ein. Dann eröffnet er seinen Beitrag, bedankt sich bei mir für die Steilvorlage: »Dafür würde ich Ihnen am liebsten ein Küsschen geben – aber das wär ja dann Missbrauch«, fügt er ironisch hinzu, und erntet dafür seinen ersten Applaus. Dass der Joke auf Kosten der Opfer sexueller Gewalt geht, scheint hier nur wenige zu stören.
Auch in den folgenden Minuten arbeitet sich der Geistliche an meinen Worten ab, vergleicht das Restrisiko der Existenz Gottes mit dem Restrisiko, das in Fukushima eingetreten sei. Da ich eingangs als Mathelehrer vorgestellt wurde, greift er nun auf die Worte eines ehemaligen Kollegen von mir zurück: »Ich zitiere jedoch einen, der nun wirklich genial war, nämlich Blaise Pascal.« Dann fasst er die berühmte Wette, die dieser Mann entwickelt hat, in zwei
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