Bin isch Freak, oda was?!: Geschichten aus einer durchgeknallten Republik (German Edition)
Unterricht zu erscheinen. Diese Routine hatte sich so stark eingeschliffen, dass ich eines Tages um kurz vor acht mein Fahrrad vor der Schule abstellte und erst vor den verschlossenen Toren feststellte, dass ich hätte ausschlafen können – weil Samstag war.
Eines der schönen Dinge an meinem alten Beruf war ja, dass die Frage nach dem Arbeitsbeginn erst gar nicht aufkommt. Spätestens ab 7:59 Uhr ist die Anwesenheit des Lehrkörpers zwingend erforderlich – der Lehrgeist darf ruhig ein bisschen später eintrudeln –, denn jede einzelne Minute, ja vielleicht sogar wenige Sekunden ohne die Präsenz eines Erwachsenen können fatale Folgen haben: Von harmlosen Wasserschlachten auf dem Flur über handfeste Schlägereien bis hin zum Tanz am offenen Fenster des vierten Stocks ist in der Schule grundsätzlich alles denkbar.
Weil Klara am heutigen Samstag offenbar ausschlafen möchte, nutze ich nun schon zum vierten Mal die Schlummertaste meines Weckers und grabe mein Gesicht erneut ins Kissen.
Dann höre ich Sarah nach ihrer Uhr greifen. »Ist heute nicht dein Vorstellungsgespräch im Callcenter?«
Oh Mann, wenn ich Sarah nicht hätte … Ich dusche in Höchstgeschwindigkeit, hole mein Fahrrad vom Hof und trete kräftig in die Pedale. Dabei bin ich in der Lage, den ersten sinnvollen Gedanken des Tages zu fassen, der über »Zähne putzen« und »Schuhe binden« hinausgeht.
Was hat mir Frau Schneider vom Arbeitsamt doch gleich geschrieben? Die Stelle, die sie mir anzubieten hat, werde vermutlich nicht meinen Wunschvorstellungen entsprechen, sei aber vielleicht eine Möglichkeit, meine Jobsuche erst einmal zu beenden. Das mag stimmen, aber aktuell kann ich mir eigentlich nichts Schlimmeres vorstellen als den Job, um den ich mich gleich bewerben werde: Callcenteragent in einem Markt- und Meinungsforschungsinstitut. Doch vermutlich hat meine Beraterin recht, denn von einer festen Anstellung aus wird es wohl leichter sein, sich um eine anständige Beschäftigung zu bewerben. Auf dem Arbeitsmarkt, so kommt es mir inzwischen vor, scheinen ganz ähnliche ungeschriebene Gesetze zu gelten wie auf dem freien Markt der Liebe.
Wer sich als Single auf die gezielte Suche nach einem paarungsbereiten Gegenüber macht, bekommt oft einen deutlich geringeren Marktwert zugeschrieben als jene, die sich in einer stabilen Beziehung befinden und entsprechend versorgt sind, weshalb sie vollkommen entspannt auf die attraktivsten Exemplare ihrer Spezies zugehen können. Der dahinterliegende Mechanismus ist klar: An Singles muss ja quasi irgendetwas nicht stimmen, während die Vergebenen so schlecht nicht sein können – immerhin gibt sich ja irgendwer mit ihnen ab! Aus dem gleichen Denkmuster heraus werden die Mitglieder unserer manchmal sogar recht klugen Gattung auch lieber lange auf einen Tisch in einem vollkommen überfüllten Restaurant warten, statt sich an einen der freien Plätze bei der schlecht besuchten Konkurrenz gegenüber zu setzen.
Jobtechnisch gesehen bin ich nun also das schlecht besuchte Restaurant, das Neukunden erst einmal mit günstigen Preisen anlocken muss, beziehungsweise der Single, der sich erst einmal nach oben arbeiten und daher nun die nervige Trulla angraben muss, die sich wenigstens mit mir blicken lässt. Einige meiner Kumpels dagegen, die sich ihren Weg in die Welt der Wirtschaft teilweise über jahrelange Praktika oder ähnlich erniedrigende Einsteigerjobs erkämpft haben, werden inzwischen von Headhuntern mit unglaublichen Angeboten versorgt – bekommen also quasi eine Einladung von einem smarten Supermodel mit einer Tischreservierung im besten Lokal der Stadt.
Skandalös? Nicht im Geringsten. Es ist nicht mehr und nicht weniger als das wichtigste Gesetz der freien Marktwirtschaft: Wer über viele Ressourcen verfügt, kann sie – vollkommen unabhängig davon, wie er an sie herangekommen ist – ohne viel Mühe vermehren. Wer dagegen über wenig Ressourcen verfügt, muss eben zusehen, wo er bleibt.
Wo ich vorerst bleiben könnte, wird mir bei der Ankunft vor einem etwas in die Jahre gekommenen Gebäude klar, in dem der Bewerbungstermin stattfinden soll. Weil es sich dabei um einen Job als Telefoninterviewer handelt, konnte ich die erste Hürde bereits in einem längeren Telefonat nehmen, sodass mich heute eine Mischung aus Schulung und Aufnahmetest erwartet. Den Fahrstuhl teile ich mir mit einem Mann in den Fünfzigern, dessen Kleidung, abgesehen vom Hemd, komplett aus schwarzem Leder besteht – was
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