Bin isch Freak, oda was?!: Geschichten aus einer durchgeknallten Republik (German Edition)
griff Andy plötzlich nach einer schwarzen E-Gitarre, die den Wert meines Gutscheins deutlich überstieg, und fragte, ob sich an dem Preis noch was machen ließe. Nach einigem Hin und Her ging Andys Taktik auf, und so stolzierte ich kurz danach im Besitz dieses noblen Instruments aus dem Laden, das für mich noch wenige Minuten vorher unerreichbar geschienen hatte.
Ist das jetzt wirklich achtzehn Jahre her? Krass, bin ich alt geworden! Meiner Gitarre sieht man die Zeit kaum an, mir natürlich schon – zum Glück, denn im Gegensatz zu heute wollte ich damals der ganzen Welt zeigen, dass mein Herz ausschließlich für Heavy Metal schlug: Von den großen Aufnähern auf der Jacke, aufgerissenen Jeans, schwarzen Doc Martens und schulterlangen Haaren bis hin zum Totenkopf am Ohrring durfte nichts fehlen! Auch daran war Andy nicht ganz unbeteiligt, denn weil er für mich nicht nur der beste Gitarrist, sondern auch der coolste Erwachsene war – falsch: der einzig coole Erwachsene! –, steckte er mich in diesem stilistisch so verletzlichen Alter volles Rohr mit seinem Musikgeschmack an. Gerade war Nirvanas blaue Platte mit dem nackten Baby erschienen, und so fiel mein Wunsch, das Gitarrenspiel zu erlernen, auch nicht gerade vom Himmel – und bei meinen Eltern glücklicherweise auf fruchtbaren Boden.
Immerhin stieg ich von nun an fünf Jahre lang jeden Donnerstag in die S-Bahn und fuhr aus meinem heimatlichen Wüstenrotghetto am Stadtrand zu Andy ins ferne, abenteuerliche Kreuzberg. Wenn wir mit dem Unterricht fertig waren, drehte er sich meist eine ungewöhnlich große Zigarette, legte eine seiner neuen Platten auf und erteilte mir dann die Ehre, seine Kopfhörer aufsetzen zu dürfen. Aus irgendeinem Grund schienen die Dinger das Wertvollste in seiner riesigen Sammlung an technischem Kram zu sein, weshalb sie einen ganz besonderen Platz über dem Schreibtisch bekommen hatten und von diesem nur selten wegbewegt wurden. Die weichen Polster der schweren Muscheln schmiegten sich an meine Ohren, dann lauschte ich den verschiedenen Vertretern von Andys Lieblingsmusik, während er auf dem Balkon seine Spezialzigarette quarzte. Danach klärte er mich über die Musiker auf, die an dem Album mitgewirkt hatten, über das Studio, in dem es aufgenommen worden war, und verortete die Musik meist irgendwo zwischen Indierock, Alternative Rock und Psychedelic Rock. Gegen Ende unserer Sessions überspielte er mir dann die besten Songs der Platte auf eine Kassette, die ich auf dem langen Heimweg in meinem Walkman hören konnte.
Während ich damit beschäftigt war, die Pubertät irgendwie hinter mich zu bringen, fiel mir jeden Donnerstag wieder auf, dass meine Vermutung im Guitarland erschreckend nah an der Realität gewesen sein musste. In der Tat schien sich Andy in seinem Leben mit nichts anderem zu beschäftigen als mit Musik. Von einer Frau war nie die Rede, auch Kinder hatte Andy keine. Sein gesamtes Geld schien er für technischen Krempel rund um sein Berufshobby auszugeben, und der einzige Mensch, von dem er jemals erzählte, war sein Freund Ricky. Mit ihm nahm er Musik auf, hörte Musik und redete über Musik.
Ich selbst bekam Ricky nur ein einziges Mal zu Gesicht, als er während meines Unterrichts bei Andy auftauchte. Ich bekam einen riesigen Schreck, als ich ihn sah, denn der hagere aschblonde Mann sah aus wie die Zombieversion von Campino, dem Sänger der Toten Hosen. Andy holte damals schnell eine Matratze aus dem Flur und legte sie in die Aufnahmekabine, dann schickte er Ricky hinein, schloss die Tür und setzte unkonzentriert den Unterricht fort.
Mit den Jahren wuchsen Andys Plattensammlung, meine Fertigkeiten auf der Gitarre und meine Haare genauso wie meine Begeisterung für Platten, die, wie Andy immer sagte, »von Musikern für Musiker« gemacht wurden. Unter meinen Klassenkameraden legte dagegen der deutsche Hip-Hop eine steile Karriere hin, was auch an mir nicht ganz vorüberging. Genau wie das Kraut, das unter Freunden dieser Musik gern geraucht wird. Andy, der mir auch in unmusikalischen Fragen ein wirklich angenehmer Ansprechpartner geworden war, konnte mit Songs von Fettes Brot oder Blumentopf zwar nicht besonders viel anfangen, attestierte ihnen aber immerhin Enthusiasmus und Authentizität – seiner Meinung nach zwei extrem wichtige Elemente von Musik. Als ich kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag aber bei einer unserer Sessions mein Grastütchen auspackte, flippte Andy vollkommen aus und schmiss mich nach
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