Bin isch Freak, oda was?!: Geschichten aus einer durchgeknallten Republik (German Edition)
setze zum Endspurt an, werde aber schon nach kurzer Zeit von Alex überholt. Der Typ ist zehn Jahre älter und mindestens elf Kilo schwerer als ich, verdammt! Mein Knöchel hindert mich daran, Gas zu geben. Als ich das Ziel schon sehen kann, verziehe ich vor Schmerz das Gesicht.
»Herr Müller! Herr Müller!«
Geierchen steht am Rand und feuert mich an. Noch zweihundert Meter, noch hundert, fünfzig, dann laufe ich über die Ziellinie. Zeit: 49 Minuten, 32 Sekunden.
Geil! Wieder verteile ich einen Becher Wasser in und über meinen Körper. Gehe mit schwerem Atem hinter der Ziellinie entlang, humple leicht, könnte aber locker noch weiterlaufen. Herrlich, dieses Gefühl der körperlichen Ekstase! Am liebsten würde ich auf meiner Brust trommeln und dabei laut brüllen. Ein Baum muss her, den ich ausreißen kann, oder ein …
»Das war ja dann wohl eher bescheiden, was?«
Wie bitte? Einen Moment lang stehe ich mit riesigen Augen vor der Personalratstante, lächele sie dann aber sanft an und gehe lieber weiter. In manchen Situationen hält man besser die Klappe. Außerdem war ich nicht einmal der Letzte unseres Teams – warum also werde gleich wieder ich angepflaumt? Ob ich vielleicht doch mal zu ihr gehe und ihr in meiner Gorillalaune die Meinung geige? Was hätte ich denn schon zu verlieren?
Dann taucht etwas in meinem Gesichtsfeld auf, bei dem mein Herz im Bruchteil einer Sekunde dahinschmilzt: kugelrunde, riesige Augen unter einer hohen Stirn, blonde Löckchen, ein Stupsnäschen und vier Milchzähne, die aus dem lachenden Mund schauen. »Papaaaaa!«
Mit unsicheren Schritten tippelt meine Tochter auf mich zu und entzückt mich mit der Tatsache, dass ich das dritte Wort bin, das sie kennt. Sarah läuft direkt hinter ihr und will mich umarmen, duckt sich dann aber schnell weg, als sie sieht, wie klatschnass ich bin. Dann kommt Alex, zwingt mich zum High-Five. Mit einer Pulle Wasser begeben wir uns an den Rand, Alex’ Frau und Tochter stoßen zu uns, auch Geierchen gesellt sich dazu.
»Was macht denn eigentlich eure Schulreform?«, frage ich in die Runde. Rolf Geier lacht seinem Vorgesetzten ins Gesicht.
»Lass uns nicht drüber reden«, fleht Alex hechelnd, »zumindest nicht jetzt … Aber unser Sommerfest findet bald schon wieder statt! Kommste?«
Das Sommerfest? Ist es schon wieder so weit? Ich fasse es nicht: Das Jahr ist schon fast rum? Krass, wie die Zeit verfliegt – gut, dass ich inzwischen wieder in Lohn und Brot stehe. Irgendwie zumindest …
15
NACH DEM JOB IST VOR DEM JOB
A ls Lehrer musste ich mich ganz schön daran gewöhnen, ständig gesiezt zu werden, doch inzwischen habe ich das Gefühl, dass die ganze Welt mich duzt.
»Sag mal, Philipp?« Die rothaarige Karin spricht mich im Büro an. »Bist du eigentlich Fußballfan?«
Oh, Achtung: Fangfrage! Bei einem derart emotionalen Thema kann jede Antwort falsch sein. Zwar bin ich inzwischen gut in den Kollegenkreis integriert, aber im Land der DFB -Lobbyisten ist es ein Leichtes, sich mit diesem Thema echte Feinde zu machen.
Vorsichtig versuche ich, Karins Absicht herauszubekommen: »Ich finde Fußball schon … ganz gut, ja. Wieso?«
Von meinem Kollegen Lorenzo, der neben uns am Rechner sitzt, weiß ich, dass er bei diesem Thema absolut keinen Spaß versteht. Als Dauerkiffer trottet er üblicherweise mit einem entspannten Lächeln durch die Büroetage, als aber vor Kurzem ein wichtiges Spiel anstand – ich glaube, es war das Endspiel des Champions-Cups oder so etwas –, hat er sich im Pausenraum so lange und heftig mit einem Interviewer darüber gestritten, dass Karin ihn danach ziemlich streng ermahnt hat. Fußball ist also definitiv ein Reizthema.
»Einer unseren wichtigsten Kunden«, antwortet meine Chefin mit ernster Miene, »hat kurzfristig eine Studie über Fußball bei uns in Auftrag gegeben. Ich wollte eigentlich jemand anderen hinschicken, aber …«
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Lorenzo kurz hochschaut, dann erklärt mir die Chefin, dass für die Erhebung Menschen befragt werden müssen, die das Hertha-Spiel gegen irgendein Team aus dem Ruhrpott live sehen werden. Meine Aufgabe würde nun also darin bestehen, zehn handverlesene und sympathische Interviewer dabei zu betreuen, vor und im Stadion mindestens fünfhundert Telefonnummern von Stadienbesuchern zu sammeln. Um Fußball würde es bei der anschließend stattfindenden telefonischen Befragung natürlich nicht gehen, meint Karin noch, sondern bloß darum, an welche
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