Bin isch Freak, oda was?!: Geschichten aus einer durchgeknallten Republik (German Edition)
Augen an. Aus dem Gebüsch kommen immer wieder Pärchen, während andere darin verschwinden. Mehrmals lenke ich mich mit lautem Gesang und stoischem Auf-den-Weg-Starren von den optischen und akustischen Reizen ab, die aus dem Unterholz zu mir dringen.
Nachdem ich die Straße des 17. Juni von Norden her kommend überquert habe, nähere ich mich schließlich meinem Ausgangspunkt, doch weil mir für die angepeilten zehn Kilometer noch fast zwei fehlen, entscheide ich mich für ein paar Runden in dem großen Areal, das südwestlich des Großen Sterns liegt. Die hier gelegenen Wiesen, die ich am Anfang meiner Strecke südlich umrundet habe, bilden das Zentrum der FKK -Freaks, also jogge ich auf den letzten Minuten zwischen unzähligen splitternackten Menschen entlang, die auf der Wiese liegen, miteinander Federball und Frisbee spielen oder sich am Wegesrand unterhalten.
»Fünfundzwanzich Euro wollte dit Ordnungsamt von mir haben!«, berichtet eine der nackten Damen einer anderen. »Nur weilick nüscht anhatte!«
»Kannisch dein Ernst sein«, ärgert sich die andere und stemmt die Hände in die ausladenden Hüften. »Sogar poppen in Jebüsch kost nur fünfundzwanzich! Und ick dachte immer, wir wärn ’ne tolerante Stadt …«
Als ich kurz vor Kilometer neun zum Endspurt ansetze, kommt meine Maschine so richtig in Fahrt. Der Puls schlägt mir bis in den Schädel, mit jedem meiner ausladenden Schritte atme ich abwechselnd tief ein und aus. Auf diesem Pulsniveau halte ich höchstens einen Kilometer durch, aber mehr brauche ich ja auch nicht mehr.
»46 Minuten, neun Kilometer«, ruft die Stimme aus meiner Tasche.
Also, Möller: Du kannst das schaffen! Trotz der Ablenkungen liegst du ganz gut im Rennen – hau rein! Ich erhöhe noch einmal meine Schrittfrequenz, denn die letzten Meter muss ich in Bestzeit laufen. Mein Blick schaltet auf Tunneloptik um. Mit ungefähr fünfzehn Stundenkilometern renne ich auf eine Wegkreuzung zu, auf der von links zwei Typen in schwarzen Anzügen auf den Weg einbiegen und mir direkt vor die Nase latschen. Um meine Zeit nicht durch einen unnötigen Stopp zu versauen, renne ich so knapp wie möglich an ihnen vorbei, trete dabei aber schief auf und knicke volle Möhre nach außen um. Der Schmerz aus dem rechten Knöchel schießt umgehend durch das ganze Bein, also falle ich der Länge nach auf den weichen Boden.
»Scheiße!«, brülle ich und halte mir mit geschlossenen Augen den Knöchel. »Verdammte Scheiße!«
In diesem Moment treten die beiden Typen auf mich zu, einer von ihnen reicht mir die Hand. »Wir konnen Sie helfen«, sagt er mit starkem amerikanischen Akzent, »kommen Sie hohk!«
Unter Schmerzen lasse ich mir von ihm auf das linke Bein helfen und halte das rechte leicht angewinkelt nach oben, stütze mich dabei an den nächsten Baum. Nachdem ich ein paar Mal durchgeatmet habe, schaue ich mir die Typen genauer an. Sie tragen die gleichen Anzüge, die gleichen Krawatten, die gleichen Seitenscheitel und haben jeder ein blaues Buch in der Hand. Seit wann laufen denn Zwanzigjährige am Samstagmorgen im Konfirmandenanzug durch den Park? Mit Namensschildern an der Brust?
»Ick bin Elder Smith«, stellt sich der eine vor und zeigt auf sein Schildchen.
»Und ick bin Elder Miller«, wiederholt der andere im selben Tonfall.
»Seid ihr Zwillinge, oder was?«
»Wir sind Mitglieder der Kirche Jesu Christi der heiligen letzten Tage«, antworten sie im Chor, dann spricht Smith mit Blick auf meinen Knöchel allein weiter: »Und wir konnen Sie von ihre Leid erlosen!«
Vierzehn Tage später finde ich mich in Begleitung von Sarah und Klara am Olympiastadion ein, von dem aus der Mini-Marathon startet. Dort entdecke ich schnell meine Kollegen und gebe Sarah noch einen Kuss, bevor ich mich leicht humpelnd zu ihnen bewege und der Frau mit der Herzfrisur erklären muss, dass mich zwei Mormonen niedergestreckt haben.
»Faule Ausrede! Das kannste deiner Großmutter erzählen«, sagt sie verärgert. »Aber wie auch immer: Damit versaust du uns auf jeden Fall die Zeit!«
Mit den Händen in den Hüften steht die ungnädigste Frau, der ich in meiner Berufslaufbahn begegnen durfte, vor mir und schaut auf die Schiene an meinem Knöchel. Dann wendet sie sich an meinen ehemaligen Vorgesetzten: »Alex, ich weiß ehrlich nicht, warum du ihn überhaupt mitlaufen lässt!«
»Weil wir vier Läufer brauchen«, erklärt er ruhig, »und sonst niemand mitmachen wollte.«
Ach so?
»Bist du dir sicher, dass du
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