Binärcode
auf die Uhr und legte sein Besteck zur Seite.
»Sprechen wir später drüber, habe noch einen Termin. Weltraumbahnhof Cape Datterich.«
* * *
Rünz ging knurrend hinter der Sicherheitsbeamtin her, die großen Satellitenmodelle auf dem Grünstreifen ignorierend, die die Besucher auf eine Besichtigung des Kontrollzentrums einstimmen sollten. Er fühlte sich entmündigt. Sie hatte ihn in einer kleinen Sicherheitsschleuse an der Zufahrt mit einem Metalldetektor abgesucht und fast eine Panikattacke bekommen, als sie seinen kleinen Nothelfer am Unterschenkel entdeckt hatte, den er sich frisch aus der Asservatenkammer zurückgeholt hatte. Rünz konnte sie mit seinem Dienstausweis und seiner Marke beruhigen, kurz bevor sie die Kavallerie um Unterstützung anfunken wollte. Aber sie hatte darauf bestanden, die Pistole sicherzustellen, solange er sich auf dem ESOC-Gelände bewegte. Unbewaffnet fühlte er sich nackt und schutzlos. Jeder hergelaufene Satellitenmechaniker konnte ihm jetzt einen 36er Maulschlüssel über die Stirn ziehen und ihm die fünf Euro für das nächste Kantinenessen abnehmen.
Sie führte ihn in ein Gebäude im westlichen Teil des Komplexes und bat ihn, in einem Raum im Erdgeschoss Platz zu nehmen und zu warten. Er war allein und schaute sich um. Ein kleiner Saal, 30 oder 40 Stühle in Reihen, auf die gegenüberliegende Wand ausgerichtet, die ein blauer Vorhang verdeckte. Sicher ein kleiner Vorführraum, in dem Steuerzahlern kleine PR-Filmchen über die Vorteile sündhaft teurer Weltraummissionen vorgeführt wurden. Aber wieso stand da noch ein großer Plasmabildschirm auf einer Konsole, wenn man an der Wand eine viel größere Projektionsfläche zur Verfügung hatte? Rünz lauschte. Ein konstantes, leises Brummen kam von einem der Nachbarräume, vielleicht ein Transformator oder eine Klimaanlage. Und da war noch etwas anderes, ein rhythmisches Quietschen, wie die alten Stahlfedern eines Bettes, auf dem sich ein Paar vergnügte. Er drehte mehrfach den Kopf, um das Signal zu orten – es kam eindeutig von der Wand gegenüber. Er durchquerte den Raum, näherte sich dem Vorhang, fummelte an den Falten herum, und als er endlich das Ende einer der beiden schweren Stoffbahnen gefunden hatte, nahm er seinen Mut zusammen und riss das Tuch entschlossen zur Seite.
Die Putzfrau auf der anderen Seite der Panzerglasscheibe ließ Glasreiniger und Lappen fallen und wich erschrocken zurück. Rünz hob die Hand zum Gruß, um sie zu beruhigen. Dann zog er den Vorhang weiter auf und betrachtete die Halle hinter der Panoramascheibe. Vor ihm lag das Herz der europäischen Weltraumfahrt, der Hauptkontrollraum des European Space Operations Centers, Dutzende von Bildschirmarbeitsplätzen an langen Pultreihen mit Headsets und Schaltkonsolen, an den Wänden riesige schwarze Bildschirme, Anzeigenpanels mit den Ortszeiten irgendwelcher Stationen rund um den Globus – und alles war vollkommen leer. Kein Terminal war besetzt, kein Bildschirm flimmerte, niemand rief aufgeregt Kommandos durch den Raum und spannte dramatisch die Kaumuskeln an, keine Männer mit Headsets in durchgeschwitzten weißen Hemden, die unverständliche technische Abkürzungen benutzten und unschuldige, wehrlose Satelliten durch feindliche Asteroidengürtel lotsten. Alles wirkte wie eine eingelagerte alte Kulisse der Paramount Studios, in der irgendwann vor 20 oder 30 Jahren eine Apollo-Mission verfilmt wurde.
Rünz war verblüfft. Er dachte nach. Es gab nur zwei Erklärungen. Entweder, die Ingenieure und Wissenschaftler hatten die Satellitensteuerung so weit perfektioniert und automatisiert, dass eine Putzfrau als Notbesetzung im Kontrollraum völlig ausreichte – oder alles war Betrug. Er war wie elektrisiert. Vielleicht hatte ihn die Sicherheitsbeamtin in den falschen Raum geführt, ihn niemals unbeaufsichtigt in diesen Bereich lassen dürfen? Wahrscheinlich wurden die hektischen Missionsaktivitäten hier für Presse und politische Entscheidungsträger mit versierten Schauspielern nur simuliert, auf den Bildschirmen flimmerten dann die Telefonbucheinträge von Toronto, und dort oben flog nicht ein einziger europäischer Satellit – und all die Milliarden Euro Steuergelder flossen in militärische Geheimprojekte! Watergate, Iran-Contra, Gammelfleisch, die Abwassergebühren in Darmstadt – Rünz hatte den großen Skandalen der Weltgeschichte einen neuen hinzuzufügen, und es musste mit dem Teufel zugehen, wenn ihm der
Weitere Kostenlose Bücher