Binärcode
beförderte ihn bis auf Augenhöhe durch den Ring. Der Industriedesigner, der die Hülle des Gerätes gestaltet hatte, musste Sinn für schwarzen Humor haben. Ein kleines rot getöntes Fenster gab für den Patienten den Blick frei auf die technischen Innereien – nicht gerade ein beruhigender Anblick. Eine ganze Staffel von Glühwendeln leuchtete im Innern auf, ein mächtiger Rotor setzte sich langsam in Bewegung wie der Fan eines Jettriebwerkes. General Electric schien von den Synergieeffekten mit dem Flugzeugtriebwerksbau reichlich Gebrauch zu machen. Die Maschine schob Rünz einige Male durch den Ring und tranchierte seinen Körper in einige Tausend virtuelle Salamischeiben.
Er hörte einen metallischen Schlag, kurz darauf fluchte einer der Handwerker draußen auf dem Flur. Er hatte wohl einen Eimer mit Farbe umgestoßen, die Lösungsmittel drangen durch die Türritzen in das Untersuchungszimmer und verbanden sich mit dem metallischen Geschmack des Kontrastmittels zu einem unangenehmen sensorischen Cocktail. Der durchdringende Farbgeruch weckte Assoziationen in Rünz, die Ahnung einer Erinnerung an eine befremdliche, vielleicht auch belustigende Situation. Er versuchte, die gemeinsamen Stunden mit seinem Vater in der Werkstatt damit zu verbinden, aber es musste etwas Aktuelleres sein. Er konzentrierte sich, vielleicht hatte es mit den Stunden zu tun, die ihm die Amnesie geraubt hatte.
Als es ihm einfiel, wäre er am liebsten gleich aufgesprungen und aus dem Ring geklettert. Er hatte sich unwillkürlich bewegt, die Assistentin mahnte ihn über einen Lautsprecher aus dem Nebenraum zur Ruhe. Er wartete ungeduldig, bis der Rotor wieder zum Stillstand kam, ließ sich die Kanüle aus der Vene ziehen, sprang auf, zog sich an und stürmte mit dem Mobiltelefon in der Hand aus dem Gebäude. Es gab Wichtigeres als eine lebensgefährliche Erkrankung. Er sprach einige Minuten mit Wedel, während er seine rutschende Hose mit einer Hand am Bund festhielt. Dann ging er zurück ins Hospital, er hatte seinen Gürtel vergessen.
* * *
»Wie zum Teufel sind Sie auf die Idee gekommen, Chef ?« , fragte Wedel.
»Ich war bei einer Comp…«, Rünz brach den Satz ab.
»Ich bin an einer Baustelle vorbeigekommen und habe Lösungsmittel gerochen, und da war’s plötzlich wieder da, wie ein Flashback, eine Szene im Baumarkt, bevor ich aufs Knell-Gelände gefahren bin. Ich ging durch die Farbenabteilung, da standen drei Typen, alle Mitte oder Ende 20, schwarze Lederblousons, kurze Haare, durchtrainierte Staturen, einer mit einem Sack Katzenstreu unter dem Arm. Die stehen in dieser Farbenabteilung vor dem ganzen Verdünnerzeug, Terpentinersatz und so weiter, diskutieren und gestikulieren. Als ich an ihnen vorbeikomme, höre ich Wortfetzen, osteuropäischer Sprachraum, Russen schätze ich .«
Wedel schüttelte missbilligend den Kopf, als zweifelte er an der Zurechnungsfähigkeit seines Chefs.
»Versuchen Sie’s doch mal mit Denken, Wedel. Drei Russen decken sich im Baumarkt mit Katzenstreu und Universalverdünner ein, ein paar Minuten später wird im Hundertwasserhaus, keinen Kilometer entfernt, eine Wohnung mit dem Zeug abgefackelt, gleichzeitig knallt genau dazwischen irgendein Sniper mit einer russischen Scharfschützenwaffe zwei Menschen ab. Statistisch gesehen ist das ein waschechter Russencluster, eine signifikante zeitliche und räumliche Häufung von Russland hier im Norden Darmstadts. Was haben Sie erreicht ?«
Rünz’ Plädoyer war weit entfernt von einer belastbaren Indizienkette, aber es reichte aus, um Wedel zu beeindrucken.
»Also, der Baumarkt hat zwölf Kassen, zehn im Hauptgebäude, zwei im Baustoffhandel im nördlichen Nebengebäude. Eine Videokamera erfasst jeweils zwei Kassen. Die Aufnahmen werden auf drei digitalen Langzeitrekordern gespeichert, und zwar die jeweils letzten 48 Stunden, an denen die Kassen offen sind. Dann werden die Festplatten automatisch wieder von vorn beschrieben .«
»Wie sieht es mit Back-ups aus, Dateien, DVDs, Bändern ?«
»Nur als Beweissicherung, wenn es Hinweise auf Unregelmäßigkeiten gibt. War am betreffenden Samstag leider nicht der Fall. Aber man muss auch mal Glück haben! Am Montag drauf fiel gegen Mittag einer der Rekorder aus. Just auf dieser Maschine ist das komplette Kassenkino vom Mordtag drauf. Der Sicherheitschef hat sofort den Kundendienst bei Mitsubishi Electric kontaktiert, die haben gleich ein Ersatzgerät beschafft und das defekte
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