Binde Deinen Karren an Einen Stern
Menschen, die Seelsorger um die
Seele
des Menschen, und dass das Wort
Psyche
zufällig die Übersetzung des Wortes
Seele
ist, war zwar peinlich für beide Seiten, wurde aber elegant überspielt, indem jede Seite ihre eigene Definition für den ihr zustehenden Begriff parat hielt. Die Kompetenzfelder waren abgesteckt, und man bemühte sich, einander nicht in die Quere zu kommen.
Allmählich zeigte sich jedoch, dass man ein ganzheitliches Wesen nicht so einfach „aufspalten“ kann. Eine seelsorgerische Arbeit, die die biopsychischen Fundamente des Menschen missachtet, ist zum Scheitern verurteilt. Eine psychotherapeutische Arbeit, die die Geistigkeit des Menschen ausklammert, scheitert nicht minder. Die Geschichte kennt beide Variationen zur Genüge. Heute, im Zeitalter notwendiger Integrationen (von Kulturen, Völkern etc.) hat Kooperation die oberste Priorität. Deshalb hat sich der Graben zwischen Psychotherapie und Religion inzwischen verringert; eine Richtung, die ihn zu überbrücken vermag, ist die Franklsche Logotherapie. Wie das? Nehmen wir den Seelenbegriff genauer unter die Lupe.
Jahrhundertelang war die
Seele
in populärer Vorstellung dasjenige, was Gott dem Menschen (und nur dem Menschen) „eingehaucht“ hat: der Odem Gottes. Mit dem kometenhaften Aufstieg der modernen Psychologie kam es zu einem radikalen Bedeutungswandel. Die
Seele
schrumpfte zum Sammelbecken psychischer Funktionen zusammen, als da sind Triebe, Begierden, Aggressionen, Frustrationen, Ängste, Komplexe, Selbstwertgefühle, aber auch kognitive Vorgänge, Konzentrationsleistungen, Erinnerungen oder Lernvolumen. Aus dem Odem Gottes wurden Stimmungsbarometer und Denkakrobatik eines höher entwickelten Tieres. Etwas „spezifisch Humanes“ fiel unter den Tisch der neuen Wissenschaft. Erst mit Frankl wurde diejenige Instanz zurückentdeckt, die den Menschen zwischen dem Göttlichen und dem Animalischen als besondere Wesenheit lokalisiert: die geistige („noetische“) Dimension des Menschen, in der Freiheit und Verantwortung, Sinnsuche und Liebesfähigkeit, sowie der schöpferische Funke eines „Kokreators“ (= „Mitschöpfer“) beheimatet sind. Wenn man so will, kann man folglich eher den
Nous
(Geist) im logotherapeutischen Sinne (als die
Psyche
im psychologischen Sinne) als die Seele im altherkömmlichen Sinne betrachten.
Dazu gibt es einen spannenden Aspekt.
Psyche
und
Nous
müssen nicht an einem Strang ziehen.
… doch der Geist sagt „Nein!“
Der „noo-psychische Antagonismus“
Die angeborenen oder erworbenen Reaktionen der
Psyche
sind instinkthaft, triebgesteuert, automatisch, konditioniert. Die Entscheidungen des
Nous
hingegen sind frei. So kann es zu einem Phänomen kommen, das spezifisch human (weil einzig beim Menschen beobachtbar) ist, und das Frankl den „noo-psychischen Antagonismus“ genannt hat: dass nämlich die
Psyche
in eine bestimmte Richtung drängt, aber der
Nous
des Menschen bewusst und willentlich eine andere Richtung einschlägt.
Wir haben dieses Phänomen bereits in der Eindeutschung „Trotzmacht des Geistes“ kennengelernt und wissen, von welch enormer Autorität es sein kann. Die
Psyche
eines Suchtkranken schreit nach dem Suchtmittel, und der
Nous
sagt Nein. Die
Psyche
eines angstgestörten Menschen will aus einer scheinbar bedrohlichen Situation entfliehen, und der
Nous
entschließt sich, tapfer darin auszuharren. Die
Psyche
einer wutentbrannten Mutter verlockt sie, ihr Kind zu schlagen, und der
Nous
hält sie im letzten Augenblick zurück. Die
Psyche
eines sexuell erregten Mannes fordert ihn auf, sich des Nachts auf ein vorbeikommendes Mädchen zu stürzen, und der
Nous
verbietet es ihm. Dergleichen ist im Tierreich unbekannt.
Freilich geben wir uns keinen Illusionen hin. Viel zu selten „gewinnt“ der
Nous
in uns, gewinnen Gewissen, Sinnerkenntnis, Verantwortungsbewusstsein und selbstlose Liebe. Aber dass überhaupt das Phänomen des „noo-psychischen Antagonismus“ möglich ist, zeichnet uns Menschen aus. Es ist unser „menschlicher Ausweis“:
ecce homo!
Warum ist der
Nous
dann so schwach? Ist er das wirklich? Frankl verglich die geistige Dimension des Menschen einmal mit einem altersschwachen Richter, der einen muskulösen Kraftprotz von Angeklagten (= die starke psychisch-triebhafte Dimension im Menschen) zu verurteilen habe. Kann er dies nicht, weil er im Zweikampf unterlegen wäre? Wir wissen, er kann es
doch.
Nicht, weil er die Muskeln dazu hätte, sondern weil er in der
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