Binding, Tim
vergessen, es mit seinem anderen Kram zu
verstecken. Sie musste nur die erste Seite aufschlagen, und seine akkurate
kleine Handschrift würde ihr ins Auge springen. Das wäre wie ein Ruf von den
Toten. Sie fing an zu blättern, auf der Suche nach dem Wort, wie ich es zehn
Jahre zuvor im Wohnmobil getan hatte. Ich konnte ihr kaum dabei zusehen, wie
ihre Finger die Seiten berührten, vielleicht genau dieselben Seiten, die ich damals
berührt hatte. Erkannte sie es wirklich nicht wieder? Dann, mit einem
Aufschrei, knallte sie das Buch vor mich hin und stieß mit dem Finger auf die
Seite. Ihre Hände waren ganz schrumpelig, als hätte sie sie eine Woche lang in
einen Waschzuber gesteckt. Plötzlich fiel mir wieder ein, wie klein und rosa
sie gewesen waren, als sie das Lenkrad umklammerten.
»Siehst du?«, sagte sie, so selbstzufrieden, als hätte sie
soeben in einer Quizshow gewonnen. »Da steht's. Eumel.«
»Ich weiß nicht, was es da so hämisch zu frohlocken gibt.
Das ist doch genau meine Rede, Carol. Es steht in dem blöden Wörterbuch. Es
ist ein gebräuchliches Wort. Ich hatte gewonnen, und er wusste es. Dein
Verlobter hat geschummelt. Wohl kaum eine gesunde Basis für ein
Vater-Schwiegersohn-in-spe-Verhältnis, oder?«
Sie schüttelte den Kopf, sprach dann mit ganz leiser
Stimme. »Dad. Siehst du die Klammern hinter dem Wort? Siehst du, was dazwischen
steht?«
Ich sah hin. »Da steht nichts. Bloß ein paar Buchstaben.«
»Ugs., steht da. Das ist die Abkürzung von umgangssprachlich.
Robin hat nicht geschummelt, Dad. Er hat einfach streng nach den Regeln
gespielt.«
Ich starrte darauf. Ugs.? »Bist du sicher, dass es das
heißt?«
»Ganz sicher.«
»Dann ist es also doch umgangssprachlich, Eumel.«
»Klar. Das weiß doch jeder.«
»Und deshalb nach strengen Scrabble-Regeln nicht erlaubt.«
»Exakt. Es sei denn ...« Sie verstummte. »Es sei denn,
was?« Sie schüttelte den Kopf. »Es sei denn, was?«
Sie sah mich trotzig an. »Es sei denn, man spielt
Schmuddel-Scrabble.« Sie lief rot an.
»Schmuddel-Scrabble? Ich versteh nicht ganz.«
Sie nahm einen großen Schluck. »Wir haben manchmal
Schmuddel-Scrabble gespielt, weißt du, mit Schimpfwörtern und Kraftausdrücken
und kuriosen Flüchen und so. Du brauchst gar nicht so zu kucken. Es ist
wirklich bloß ein harmloser Spaß. Da wäre Eumel wohl akzeptabel gewesen.«
»Also, ich weiß nicht. Schmuddel-Scrabble. Haben wir dir
dafür die teure Ausbildung bezahlt?« Ich zog das Wörterbuch näher heran, legte
die Hand darauf.
»Ich will nicht darüber reden. Ihr habt es damals nicht
gespielt, und Robin hat nicht geschummelt.« Sie legte die Hand an den Mund, die
Augen weit aufgerissen. »Hast du ihn deshalb in die Tiefe gestoßen? Weil du
gedacht hast...
Es hatte gar nichts mit mir zu tun, nicht? Du hast es
getan, weil du dachtest, er hätte geschummelt.«
»Card, wie oft muss ich das noch sagen. Es war ein Unfall.
Genau wie das mit deinem Bein ein Unfall war.«
»Ja, und du warst der Hai. Wann bist du je vorher auf einen
Berg gestiegen? Nie! Und kaum stapfst du das erste Mal los, stürzt mein
Verlobter in eine Schlucht?«
»Es hatte geregnet, den ganzen Tag und die ganze Nacht,
wie du selbst weißt. Die Wege waren rutschig. Ich hätte am liebsten
kehrtgemacht, aber du weißt ja, wie er war. Er war nicht zu bremsen. Ich hatte
Mühe, mit ihm Schritt zu halten, und eins muss ich ihm lassen: Er war ein
echter Bergwanderer, dein Robin, mit Kartenlesen, Energieriegel, richtigen
Wandersocken. Er hatte es im Blut.«
Ihr Gesicht wurde ganz weich bei der Erinnerung.
»Er liebte die Natur.« Ich setzte noch einen drauf. »Und
was er alles wusste. Er kannte jeden Berg mit Namen. Hätte gut einen
Wanderführer schreiben können, bei dem Grips, den er im Kopf hatte. Er wollte
dich anrufen, als wir oben waren, für dich ein Foto machen. Er hat nach seinem
Handy gesucht, als er ausrutschte. Vielleicht ist es kein großer Trost für
dich, Carol, aber bei seinem Sturz in die Tiefe galten seine letzten Gedanken
ganz sicher dir.« Ich schob das Wörterbuch beiseite, öffnete die zweite
Flasche. Sie schniefte laut. Ich goss ihr noch ein Glas ein, nahm das
Wörterbuch vom Tisch und legte es neben mich.
»Ich hab noch immer seine Schottenpantoffeln«, sagte sie.
»Seine Mum hat sie mir gegeben. Sie spielen nicht mehr die Melodie, aber ich
könnte sie niemals wegwerfen. Sie sind das Einzige, was mir von ihm geblieben
ist. Ich hab seiner Mum noch länger geschrieben,
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