Binding, Tim
Gesicht. Ich konnte es
sehen, klar und deutlich, und ich hab begriffen, dass es Robins war. Robins.
Du hattest Robins Wörterbuch, das er zusammen mit dem Scrabble-Set verloren
hat, und ich bin aufgewacht und wusste, dass es nicht bloß ein Traum war. Das
Wörterbuch, das ich gestern Abend gesehen habe, hat Robin gehört. Robin. Wo
ist es, Dad? Zeig's mir! Zeig's mir!« Sie packte wieder meinen Arm, versuchte,
mich aus dem Bett zu zerren. Ich musste das Laken festhalten. Für die
Daunendecke war es zu warm gewesen.
»Carol. Um Himmels willen. Ich hab nichts an.«
»Ist mir egal! Steh auf! Steh auf!«
Ich wickelte das Laken um mich, folgte ihr ins Wohnzimmer.
Sie schwirrte umher wie eine Fliege, die mit Killerspray angesprüht worden
ist, fahrig und verrückt.
»Wo hast du's versteckt?«, schrie sie, mit Speicheltröpfchen
auf den Lippen. »Es hat hier auf dem Tisch gelegen! Was hast du damit gemacht?
Los, zeig's mir.«
»Carol. Carol. Ich hab nichts versteckt.«
»Hast du's verschwinden lassen, weggeschmissen? Wenn ja,
dann wäre mir alles klar. Aus dem Weg. Weißt du eigentlich, dass der Tag, an
dem Mum Miranda getötet hat, auch Robins Todestag war? Anderes Jahr, gleicher
Tag. Das bringt einen ins Grübeln, oder? In dieser Familie ist irgendwas faul.«
Sie wollte an mir vorbeistürmen, Wut und Angst in den
Augen. Ich packte sie fest mit einer Hand, behielt die andere am Laken.
»Carol. Jetzt wollen wir uns mal wieder abregen. Ich habe
nichts weggeworfen. Es muss noch hier sein. Wenn ich es nicht weggetan habe und
du es nicht weggetan hast, dann muss es hier noch irgendwo sein. Es hat auf dem
Tisch gelegen, nicht, und ich weiß noch, dass ich es beiseitegeräumt hab, für
den Wein. Unter einem von den Kissen? Nein. Vielleicht ist es tiefer
gerutscht. So was passiert leicht.« Ich schob eine Hand in die Polsterritze auf
einer Seite des Sofas, dann auf der anderen. Carol beobachtete mich, schwer
hechelnd, wie ein Hund nach einem Kampf. »Na bitte«, sagte ich. »Was haben wir
denn da?« Und ich förderte das Wörterbuch von der guten alten Alice zutage.
Mannomann, was bin ich doch manchmal für ein cleverer Mistkerl.
Sie riss es mir aus der Hand, blätterte die Seiten durch.
»Das ist nicht Robins.« Sie fuchtelte damit vor meiner Nase herum, wie ein
Chinese mit seinem kleinen roten Buch.
»Das hab ich auch nie gedacht.«
»Ich meine, das ist nicht das von gestern.«
»Natürlich ist es das von gestern. Was denkst du denn, wie
viele Wörterbücher ich habe?«
»Aber das, das ich gestern gesehen habe, war Robins.«
»Gestern hast du's nicht für Robins gehalten. Da hast du's
bloß für ein Wörterbuch gehalten.«
»Es war Robins! Das weiß ich genau!« Halb schrie, halb
weinte sie. »Es war blau-grün, mit einem wasserdichten Umschlag, der an der
Ecke etwas geknickt war, weil ich mich mal draufgesetzt hab.«
»Carol, Schätzchen. Du hast es geträumt, hast du gesagt.
Wahrscheinlich war es Robins, das in deinem Traum. Aber das hier ist das, in
das wir gestern geschaut haben. Diese Sache mit Robin hat dich ganz
durcheinandergebracht. Du siehst, was du sehen willst. Das hier hat auch einen
Knick in der Ecke, siehst du?« Ich nahm ihren Arm, setzte sie aufs Sofa. Sie
ließ das Wörterbuch aus den Fingern gleiten, und aller Zorn wich aus ihr
heraus. Sie war allein und verwirrt und hilflos. Es behagte mir nicht, was ich
getan hatte.
Wir saßen da, wir zwei, und ich hielt sie im Arm, wie ich
sie seit Jahren nicht im Arm gehalten hatte, wie ich seit Jahren niemanden mehr
im Arm gehalten hatte, als brauchte mich jemand, meine Gegenwart. Ich weiß
nicht, wie lange ich sie so hielt. Ich weiß nur, dass mir irgendwann der Arm
wehtat, weil sie mit Kopf und Schulter darauf ruhte, zunächst war es nur ein
schwacher Schmerz, der aber zunehmend in meinen ganzen Körper sickerte. Er
wurde immer schlimmer und schlimmer, und ich hätte furchtbar gern ihr Gewicht
verlagert, wagte aber nicht, mich zu bewegen, damit das Gefühl nicht
verschwand. Ich hatte wieder eine Tochter. Ich wollte das nicht aufgeben. War
sie eingeschlafen, war sie wach? Es war schwer zu sagen. Irgendwas dazwischen,
denke ich, als ob sie zwischen zwei Gefühlen schwebte und selbst nicht wagte,
sich zu bewegen, aus Angst, das kleine bisschen Frieden zu stören, das sie
gefunden hatte. Songs of love and Hate, was?
Leonard wusste, wovon er sprach.
ACHT
B lind Lionels Eisenbahnschwellen
wurden früh am nächsten Morgen geliefert. Ich schleppte sie
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