Bindung und Sucht
auf das eigene Selbstbild und das Vertrauen, in Beziehungen etwas bewirken zu können. Wird das – bei Säuglingen noch unausgereifte – Bindungssystem des Kindes in emotional als unsicher erlebten Situationen aktiviert, steht es in Konkurrenz zum System »Exploration und Neugier«, dessen Entfaltung aber Voraussetzung für adäquates Lernen ist. Besonders gefährdet in ihrer Lernentwicklung sind traumatisierte und deprivierte Kinder, bei denen häufig ein desorganisiertes oder gar nicht mehr klassifizierbares Bindungsmuster diagnostiziert werden kann. Eine bislang unterschätzte, aber große Gruppe ist die der an einer postpartalen Depression leidenden Mütter, die entweder in der passiv-apathischen Form der Störung den Kindern zu wenig Stimulation und Resonanz bieten oder aber in der agitierten Variante ihren Säugling grenzüberschreitend überstimulieren. Beide Formen verhindern beim Kind das Maß an Sicherheit und Selbstwirksamkeit, das zur Ausbildung von Neugier und Interesse notwendig ist. Dies sind aber wesentliche Ressourcen, mit denen sich das Kind auf sich ändernde Umwelten einstellen und die eigene Entwicklung aktiv gestalten kann. Auch Mütter mit Suchterkrankungen verhalten sich häufig – wie später zu zeigen sein wird – ähnlich depressiv.
Auskunft zu Entstehungsbedingungen und Präventionsmöglichkeiten von Entwicklungsstörungen geben uns die Ergebnisse der modernen Säuglingsforschung, die Bindungsforschung, psychoanalytische und systemische Zugangsweisen und insbesondere auch die Neurowissenschaften. Aus dem Bereich derklinischen Epidemiologie verweist u. a. die mit über 17 000 amerikanischen Krankenversicherten durchgeführte Verlaufsstudie von V. Felitti (2002) auf die herausragende Bedeutung, die frühkindliche Stresserfahrungen für das psychische und somatische Erkrankungsrisiko in allen Lebensaltern haben. Insbesondere zeigt diese Adverse Childhood-Experiences- (»ACE«-) Studie, dass Suchterkrankung und Depression in einem signifikanten Dosis-Wirkungsverhältnis zu belastenden kindlichen Lebenserfahrungen stehen. Die Vulnerabilität für Suchterkrankungen aufgrund früher Stresserfahrungen sowie für eine Reihe von Persönlichkeitsstörungen ist auch durch andere Forschungsarbeiten gut belegt (Egle & Hardt 2004). Die weiter zunehmenden Störungen der seelischen Entwicklung (Wittchen et al. 2011) sind untrennbar mit Problemen der Selbstregulation assoziiert.
Die bis hierher referierten Argumente sind Grund und Anlass dafür, das Thema der interaktionellen Regulation und Ko-Regulation kindlicher Bedürfnisse durch die primäre Bezugsperson in der im Folgenden vorgestellten Studie besonders in den Mittelpunkt zu stellen.
Einstellungen und Erlebensweisen von Müttern
Neben dem beobachtbaren Verhalten von Mutter und Kind spielen das Selbsterleben der Mutter und ihre Einstellungen zu ihrem Kind, zu anderen Menschen und zum Leben allgemein eine weitere bedeutsame Rolle für das Gelingen der frühen Mutter-Kind-Beziehung. Die positive Ausgestaltung der »Mutterschaftskonstellation« entscheidet mit darüber, ob in Verbindung mit dem Baby Stress und Belastung erfahren oder aber Glück, Bereicherung und Sicherheit erlebt werden.
Die Mutterschaftskonstellation
Mit der Geburt eines Babys gleitet die Mutter in eine neue, charakteristische psychische Organisation hinein, die D. Stern (2006) als »Mutterschaftskonstellation« bezeichnet hat. Es handelt sich dabei um einen ›psychischen Organisator‹ für eine »neue Gruppe von Handlungstendenzen, Sensibilitäten, Phantasien, Ängsten und Wünschen« (Stern 2006, S. 209). Während ihrer vorübergehenden Dauer wird die Mutterschaftskonstellation zu einer Organisationsachse, um die sich das ganze psychische Leben der Mutter dreht. Die Mutterschaftskonstellation betrifft drei verschiedene, miteinander zusammenhängende Diskurse, die innerlich und äußerlich ausgetragen werden:
1.) den Diskurs mit der eigenen Mutter (der Mutter ihrer eigenen Kindheit),
2.) den Diskurs mit sich selbst als Mutter,
3.) den Diskurs mit dem Baby.
Konstituierende, existenzielle Themen dieser Mutterschaftskonstellation sind:
Leben und Wachstum: Kann die Mutter das Überleben und Gedeihen des Babys gewährleisten?
Primäre Bezogenheit: Kann sie eine – für sie selbst authentische und für das Kind förderliche – Beziehung zu dem Baby aufnehmen?
Unterstützende Matrix: Wird sie das Unterstützungssystem schaffen und tolerieren können, das zur Erfüllung dieser
Weitere Kostenlose Bücher