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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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getragen. Ein gelbes mit roten Blumen, sehr altmodisch, solche gibt’s nicht mehr. Meine Kopftücher sind alle grün, die Blumen sind viel feiner, nicht so grob. Wo die Frau hergekommen ist – keine Ahnung. Ich hab sie nicht so genau gesehen. Sie ist zu meinem Hrischka geflogen und hat ihm die Axt aus der Hand gerissen. Hrischka ist vor Schreck in die Knie gegangen. Und dann hat sie ihn so furchtbar angeschrien! Gott Allgütiger! Sie hat ihn beschimpft – solche Flüche hab ich mein Lebtag nicht gehört! Ich glaube nicht, dass die Mutter Gottes solche Ausdrücke kennt! Nie im Leben! Sie hat zu Hrischka ›Missgeburt‹ gesagt, ›Hurensohn‹ hat sie gesagt, wobei das nicht stimmt, er hat ja Eltern gehabt, auch wenn die nichtsnutzig waren, aber trotzdem. Hrischka ist ohnmächtig hingefallen, aber mir hat sie beim Aufstehen geholfen und gemeint, ich soll die Rettung rufen, wegen dem Blut.«
    »Wie hat sie geheißen?«
    »Ich hab sie nicht gefragt. Ich hab nur gesagt, dass es eine Unart ist, wenn eine Frau so flucht. Sie hat mir recht gegeben und sich entschuldigt. Dann ist sie abgerauscht.«
    »Einfach weggeflogen?«
    »Die war einfach weg. Verschwunden.«
    »Und das hat Sie nicht gewundert?«
    Shenja dachte einen Moment lang nach.
    »Schon ein bisschen, aber heutzutage gibt’s ja alle möglichen Leute. Die einen können gut schwimmen, die anderen haben halt fliegen gelernt. Man kann nie wissen.«
    »Stimmt auch wieder«, sagte Lena.
    Shenja stand auf.
    »Entschuldigen Sie mich, ich muss jetzt Kartoffeln schälen, die liebe Ira kommt gleich vom Einkaufen zurück und ich hab ihr versprochen, zu Mittag was zu kochen.«
    »Wer ist die liebe Ira?«, fragte Lena rein aus Interesse.
    »Die Tochter meiner Nichte, ein liebes Mädchen. Sie bleibt bei mir, bis sie eine Arbeit findet. Hrischka liegt im Krankenhaus und die Ärzte haben gemeint, er wird noch lange dort bleiben. Ganz benebelt ist er im Kopf. Hört nichts mehr, das arme Kind …«
    Da weinte Shenja wieder eine Minute lang. Beim Hinausgehen hörte Lena sie noch sagen:
    »Na, schauen Sie zu, dass Sie nichts Schlechtes über Hrischka schreiben. Er ist in Wirklichkeit ein ganz Braver. Und diese Frau mit dem Kopftuch, na, ich weiß nicht, es gehört sich nicht für eine Frau, so zu fluchen.«

    Zurück in San Francisco, arbeitete sich Lena in der landeskundlichen Bibliothek durch die vergangenen Jahrgänge der Regionalzeitungen und las die Kriminalchronik. Doch in sämtlichen Blättern wurde nur gequält, erstochen und gemordet. Von wundersamen Rettungen war nirgendwo die Rede. Die Mutter Gottes war niemandem sonst erschienen. Das heißt, man hatte sie schon gesehen, zum Beispiel in Potschajiw und in Sarwanitsja, aber das war im 13. Jahrhundert gewesen, und Lena brauchte neuere Daten.
    In irgendeinem Dorf in Transkarpatien sollen auf einem Baumstamm Umrisse einer Frau zum Vorschein gekommen sein, und Tausende pilgerten dorthin, um zu beten. Neben dem Baum wurde sogar eine kleine Kapelle errichtet. Doch Lena fand dieses Wunder nicht inspirierend genug. In einem anderen Dorf, in der Region um Czernowitz, soll eine blinde Frau plötzlich ihr Augenlicht wiedererlangt haben, angeblich durch eine Stimme, die aus dem Himmel erklang. Das passte auch nicht. Ein anderer merkwürdiger Fall soll sich in der Region Lemberg zugetragen haben, und zwar an der polnischen Grenze. Eine Gastarbeiterin wurde auf dem Heimweg von einem Räuber angegriffen. Die Frau streckte ihm ihr Kruzifix entgegen, als wäre er ein böser Geist. Als der junge Mann das Kreuz sah, fiel er tot um. Die Ärzte stellten einen Herzinfarkt fest. Einer der Mediziner verfasste sogar einen wissenschaftlichen Artikel zum Thema »Drastisches Ansteigen des Herzinfarktrisikos bei jungen Männern in der Ukraine«.
    Lena ließ das Durchforsten der Zeitungen sein und sprach von mangelnder Professionalität im ukrainischen Journalismus.
    Als nächstes stand ein Priester auf ihrem Programm. Alle Informationen über Wunder müssten theoretisch bei den zuständigen Geistlichen zusammenlaufen, dachte Lena, und ging zum bereits erwähnten Pfarrer, bei dem sie zum ersten und zum letzten Mal gebeichtet hatte. Sie hätte ihn fast nicht wiedererkannt. Der Pfarrer war in die Breite gegangen und trug einen neuen Talar mit Goldstickerei. Lena wartete, bis der Morgengottesdienst vorbei war, und stellte sich anschließend lange an, bis alle alten Weiber endlich ihr Leid geklagt hatten. Meistens lamentierten sie übers liebe Geld und

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