Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
zurückgekommen.
»Sind Sie Journalistin?«, fragte Shenja.
Lena bejahte freundlich:
»Ja, bin ich. Sie sollen vor Kurzem ein recht unangenehmes Erlebnis gehabt haben …«
Shenja brach unvermittelt in Tränen aus und weinte genau eine Minute lang. Nach einer Minute waren die Tränen getrocknet und Shenja fragte nüchtern:
»Und wo ist Ihre Kamera?«
»Welche Kamera? Ach so, die! Na ja, ich bin Zeitungsreporterin. Ich schreibe aus dem Gedächtnis.«
»Na, wenn das so ist, dann setzen Sie sich doch. Warten Sie, ich bringe Ihnen einen Stuhl aus dem Haus.«
Sie nahmen einander gegenüber Platz. Struppi versteckte sich hinter den Beinen seines Frauchens und kläffte von Zeit zu Zeit bedrohlich, als bemühte er sich, Lena zu verstehen zu geben, dass er Wache hielt und jederzeit zum Angriff bereit war.
»Entschuldigen Sie noch einmal, dass ich Sie so …, ohne vorher anzurufen …«
»Das ist in Ordnung, ich habe kein Telefon.«
»Erzählen Sie doch bitte, wie alles angefangen hat«, ersuchte Lena. Sie bemühte sich, in die Rolle einer Journalistin zu schlüpfen, und fand sogar Gefallen daran.
»Was soll ich groß erzählen? Da gibt’s nicht viel zu sagen. Ein Unglück ist passiert. Mein lieber Enkel liegt im Krankenhaus, anscheinend hat er sein Gehör verloren.«
»Wie hat er das verloren?«
Shenja rang nach Worten: »Na ja … Mein Enkelchen ist ein kleiner Nichtsnutz. Er trinkt viel. Ich sag ihm die ganze Zeit: Trink nicht, der Wodka hat noch keinem geholfen. Aber er will nicht auf mich hören. Die Jugend hört nicht mehr auf die Alten. Sie glaubt, sie weiß alles besser. Ansonsten ist Hrischka ein guter Junge. Ein ganz Lieber.«
»Er ist Ihnen angeblich mit einer Axt nachgelaufen.«
Shenja fuhr zusammen:
»Wer sagt denn so was?! Wie soll man diesen Journalisten noch glauben! Die drehen einem das Wort im Munde um. Er ist mir nicht nachgelaufen … Es war eher ein … schnelleres Gehen. Er hätte mir doch nichts getan. Ich kenne meinen Hrischka! Vom Wodkatrinken war er benebelt. Ich hab doch gesagt, er trinkt viel. Er hat schon länger nach der Axt geschielt. Ich hab gemerkt, dass es ihn in den Fingern juckt, also hab ich die Axt in Sicherheit gebracht. Es geht doch nicht um mich. Ich bin schon alt, ich sterbe ja ohnehin bald, aber er verbaut sich sein junges Leben.«
So war sie immer, die Shenja, sagte Lena später. Man konnte ihr nicht lange zuhören, weil einen das Bedürfnis überkam, eine Bombe im Erdkern zu verstecken und den roten Knopf zu drücken.
»An dem Abend war er schon betrunken, als er nach Hause gekommen ist. Er hat da einen Freund, ein schlechter Mensch ist das, der schenkt meinem Hrischka immer nach, obwohl Hrischka vermutlich gar nicht will. Hrischka ist einfach zu gutmütig, er kann nicht Nein sagen. Da kommt er also betrunken heim, holt die Axt unter dem Bett hervor und starrt sie mit glänzenden Augen an. Dann wird er auf einmal ganz anders, schaut angestrengt, runzelt die Stirn. Ich sage kein Wort. Ich will ihn nicht wütend machen, damit er keine Sünde begeht. Er fragt: Warum redest du nicht mit mir? Und zieht mir die Axt über den Rücken. Nicht sehr tief, war nur ein Kratzer. Aber das Blut rinnt mir trotzdem über die Beine, das spüre ich. Na ja, dann bin ich auf den Hof raus, um ihn nicht unnötig zu ärgern. Weit kann ich nicht laufen. Da stürze ich auf den Boden und liege still. Denk mir, vielleicht fängt er sich wieder oder übersieht mich. Aber dann beugt er sich über mich und lacht irgendwie unheimlich, wie Menschen nicht lachen können. Ich sag’s ja, es war eine kurze geistige Umnachtung, der Teufel ist in ihn gefahren. Das war nicht mein Hrischka.«
»Hat er Sie früher manchmal geschlagen?«
»Nein! Also bitte! Im Leben nicht!«
Lena konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Shenja war gekränkt.
»Ich schwör’s Ihnen, noch nie!«
»Jaja, schon gut. Ich hab da ein Kratzen im Hals, hab mich vielleicht erkältet …«
»Na ja, also, da beugt er sich über mich und sagt irgendwas in der Art wie, ich schlachte dich ab wie eine Sau. Ich antworte ihm: Mach nur, ich lebe schon viel zu lange. Ich war ganz ruhig, ehrlich. Hrischka holt mit der Axt aus, und da kommt sie plötzlich angeflogen …«
»Die Mutter Gottes?!«
»Was redest du, Mädchen! Die Journalisten saugen sich was aus den Fingern und ihr glaubt alles! Hätte ich die Mutter Gottes nicht erkannt?«
»Hätten Sie?«
»Na, sicher doch! Aber diese Frau war irgendwie … Sie hat ein Kopftuch
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