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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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Zwiebeln in der Nase.
    »Falls du dir vielleicht einmal einen Hund zulegen willst«, sagte Lena und stockte, »na ja, oder irgendein anderes Haustier, dann schau ins Tierheim. Da gibt’s jede Menge. Und Katzen auch. Sind alle gesund und sterilisiert, der Tierarzt macht seine Arbeit gut.«
    »Danke. Sollte ich einmal ein Haustier wollen, geh ich ins Tierheim.«
    »Mein Bus fährt schon in einer halben Stunde. Ich muss mich beeilen.«
    »Macht nichts, geh ruhig, ich freue mich, dass du vorbeigeschaut hast.«
    Lena blieb sitzen.
    »Ist bei dir wirklich alles okay? Magst du vielleicht zum Bus mitkommen, dann könnten wir noch ein wenig plaudern.«
    »Ich kann nicht. Aber geh du nur.«
    »Musst du irgendwas erledigen?«
    »Es geht einfach nicht.«
    Hund senkte schuldbewusst den Kopf und blickte auf ihre Beine. Da bemerkte Lena erst, dass sie in eine Decke gewickelt waren.
    »Hund, was ist mit dir?! Kannst du nicht gehen?!«
    Hund schwieg.
    »Was ist passiert?! Wie?! Wie lange schon?!«
    »Schon zwei Jahre.«
    »Du sitzt seit zwei Jahren in diesem Zimmer?!«
    »Genau.«
    Das Zimmer versank im feuchten Schnee. Lena schnürte es die Kehle zu. Später empfahl sie, die Tränen nicht zurückzuhalten, wenn es einem die Kehle zuschnürt, sonst könne man ersticken.
    »Ist halb so schlimm«, sagte Hund. »Ich hab mich daran gewöhnt. Es ist okay. Ich will kein Mitleid. Ich bin einfach nur unglücklich.«
    »Es gibt keine unglücklichen Menschen!«
    »Doch«, gab Hund ruhig zurück. Sie nestelte mit ihren dünnen Fingern am Saum der Decke, die ihre Beine verhüllte, die den Dienst aufgegeben hatten.
    Der Bus nach Bratislava würde in fünfzehn Minuten abfahren.
    »Ich bin schuld«, sagte Lena.
    »Du kannst nichts dafür. Du hast doch selbst gesagt, dass man niemanden wegen irgendwas beschuldigen darf.«
    »Ich habe mich geirrt.«
    Der Bus nach Bratislava verließ San Francisco gerade. Hund blickte Lena mit treuherzigen Augen voller Dankbarkeit und Hoffnung an.
    »Du wolltest doch die Welt sehen.«
    »Das hat Zeit. Ich hab mein ganzes Leben noch vor mir.«
    Wenn man behauptet, irgendwas hätte noch Zeit, bleibt dafür in Wirklichkeit keine Zeit mehr. Das musste Lena einsehen, die es immer und überall eilig hatte. Wenn man sagt, man habe das ganze Leben noch vor sich, hat man es im Allgemeinen schon hinter sich – eine ewig gültige Regel. Auch wenn man darauf besteht, die Welt sehen zu wollen, vergisst man, dass man sie sich gerade ansieht. Wenn man beteuert, man laufe nicht weg oder man habe ein bestimmtes Ziel, dann läuft man in Wahrheit weg und vor irgendwas davon. In ihren Tagebüchern schrieb Lena: »Worte sind Betrug und Selbsttäuschung, ich habe keine Zeit für solchen Mist.« Sie würde nie mehr zu ihren Tagebüchern zurückkehren.
    Sie hatte wieder einen klaren Plan.
    »Hund, ich mache einen Menschen aus dir.«

    Zuerst heuerte Lena als Kellnerin im »Goldfisch« an und mietete ein Zimmer in einem alten Haus in der Nähe des Stadtparks. Sie durchlebte gerade ihr achtundzwanzigstes Lebensjahr.
    Das Haus war baufällig. Im Innenhof standen große, alte Eschen, die nachts, wenn der Wind ging, gespenstisch knarrten. Die Wohnung gehörte einer achtzigjährigen Frau, die früher im Heimatkundemuseum gearbeitet hatte. Ihr ehemaliger Beruf holte sie im Alter wieder ein. Die Frau verwandelte ihr Haus in ein Lager für allerlei Gerümpel und alten Kram. Sie schleppte alles Mögliche aus den umliegenden Mülltonnen an und war überzeugt, die Wissenschaft würde es ihr in Zukunft danken, wenn eines Tages die Kultur oder, besser gesagt, die Kulturlosigkeit der heutigen Zeit aufgearbeitet würde. Ich bereite den Boden für die Archäologie der Zukunft, sagte sie. Manchmal bekam sie Wutanfälle. Dann zertrümmerte sie Flaschen, Geschirr und Fensterscheiben, fluchte wie ein Droschkenkutscher und zog sich nackt aus. In ihrer Blöße rannte sie auf die Straße und blieb zwischen Autos und bestürzten Passanten stehen. Sie erinnerte an einen verwirrten Dämon, der die Kontrolle über eine Welt verloren hat, aus der das Böse für immer verschwunden ist.
    Wenn Lena versuchte, den Dämon nach Hause zu lotsen oder ihm zumindest eine Decke überzuwerfen, schrie die Frau wie am Spieß:
    »Lass mich in Ruhe! Lass mich! Ich kehre heim!!! Ich kehre heim!«
    Am ersten Tag quetschte die Museumsfrau Lena aus:
    »Was machen deine Eltern?«, fragte sie.
    »Mein Vater ist Ingenieur und meine Mutter Schokoladenmacherin.«
    »Und du?«
    »Ich bin

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