Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
gebe keinen ungünstigeren Ort und Zeitpunkt, um jemandem den Tod an den Hals zu wünschen.
Anstatt zum Busbahnhof zu fahren, machte Lena sich auf die Suche nach Hund.
9 Der Immobilienkrieg
Iwankas Familie lebte in einer großen Fünfzimmerwohnung in jenem Teil von San Francisco, in dem auch Lena früher mit ihren Eltern gewohnt hatte.
Als Kind besuchte Lena ihre Freundin nicht gerne zu Hause. Die Wohnung roch nach Armut und einem Haufen Menschen, die, wie ein urzeitlicher Stamm, alle aufeinanderhockten. Sie lebten dort zu zwölft: zehn Kinder, die kugelrunde Mutter und der einarmige Vater. Später holten sie auch noch die Großeltern vom Dorf zu sich. Und alle, bis auf Hund, waren unfreundlich und konnten geradezu gehässig sein. Sie durchbohrten Lena mit ihren Blicken, so wie man einen Konkurrenten ansieht, dessen bloße Gegenwart man als Bedrohung empfindet.
Im Vorraum türmten sich Berge von schmutzigen Säcken mit Kartoffeln, ein paar mit Zwiebeln und noch ein paar mit Äpfeln. Es sah so aus, als würde die Sippe sich von nichts anderem ernähren. Hunds Mutter wirkte immer erschöpft und unzufrieden. Lena sah sie kein einziges Mal lachen, ebenso wenig wie Hunds Vater. Lena ging ihm aus dem Weg, sie dachte, er könnte alle völlig grundlos schlagen, sie eingeschlossen. Wenn man nur einen Arm hat, will man den zumindest so einsetzen, dass die anderen Respekt oder wenigstens Angst vor einem zeigen.
Lena betrat das Wohnhaus und fuhr mit dem Aufzug in den sechsten Stock. Alles schien immer noch genau wie früher. Die Wohnungstür war in der Zwischenzeit nicht neu gestrichen worden und die mit schwarzem Filzstift hingeschmierte Aufschrift »Wählt Darmohraj« hatte auch niemand abgewaschen, obwohl Darmohraj die Kommunalwahlen lägst verloren hatte und vor zehn Jahren aus der großen Politik der lokalen Entscheidungen ausgeschieden war.
Sie klingelte. Niemand kam zur Tür. Lena klingelte noch einmal. Für Hunds Familie war es charakteristisch, nicht zu öffnen, weil jeder dachte, ein anderer würde aufmachen. Lena wartete. Dann quietschte die Tür doch noch und Lena stand der kugeligen Mutter gegenüber.
»Was willst du hier?«, fragte sie nicht mehr ganz so ärgerlich.
»Ich bin Lena. Iwanka und ich waren zusammen in der Schule«, sagte Lena überflüssigerweise.
»Ich weiß, wer du bist. Geh, und lass dich nie wieder blicken.«
»Ich würde gerne mit ihr reden. Wohnt sie hier?«
Hunds Mutter ließ Lena widerwillig in den Vorraum.
»Pass auf, die Säcke«, knurrte sie.
Aus den verschiedenen Zimmern schauten neugierige Köpfe heraus. Lena erkannte keinen Einzigen davon. Sie zog die Schuhe aus.
»Wo ist Iwanka?«
»Dort, im hinteren Zimmer.«
Lena ging durchs Vorzimmer ins Innere der Wohnung und hörte, wie Hunds Mutter hinter ihrem Rücken zu schluchzen begann. Lena drehte sich um, aber es war niemand mehr da. Vier Türen schlossen sich im gleichen Augenblick geräuschlos. Es stank nach Zwiebeln und nach Erde.
»Iwanka?«
Lena schaute vorsichtig ins hintere Zimmer hinein. Früher hatten Hund und ihre ältere Schwester sich den Raum geteilt, gerauft und sich ständig gestritten. Später wurde diese ältere Schwester Friseurin.
»Iwanka?«
Hund saß auf einem Sessel am Fenster. Sie blickte hinaus. Das Fenster war sperrangelweit geöffnet und von draußen schwebten feuchte Schneeflocken und Straßengeräusche herein. Auf dem Fensterbrett blühte die Königin der unsterblichen Zimmerpflanzen: die Pelargonie.
»Hallo Hund«, sagte Lena freundlich. »Na, überrascht?«
Hund lächelte, blieb aber auf ihrem Platz sitzen. Sie wirkte noch viel kleiner als früher und unglaublich dünn. Ihre aschblonden Haare waren zu einem kümmerlichen Zöpfchen geflochten. Ein dünner Rollkragen, darüber ein unförmiger Pullover. Blauviolette Augenringe.
»Lena, ich freue mich sehr, dich zu sehen«, sagte Hund.
»Ich freu mich auch. Ich fahre ins Ausland, ich möchte was von der Welt sehen. Wollte dich vorher noch besuchen. Wie geht’s? Alles in Ordnung mit dir?«
»Danke, geht so. Ich habe von deinen Erfolgen im Kampf für die Tierrechte gehört. Du warst im Fernsehen.«
»Pah«, sagte Lena und tat es mit einer Handbewegung ab, »ich hab zu der Zeit nichts anderes zu tun gehabt. Das mit dem Tierheim ist erledigt. In Lemberg und in Kiew werden jetzt auch welche eingerichtet. Das Wichtigste ist, den ersten Schritt zu machen.«
Lena setzte sich auf Hunds Bett. Sie hatte immer noch den Gestank von Erde und
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