Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
zurückschlagen, genau in die Eier!«
»Unsere Zeitung wird auch von Männern gelesen«, sagte der Journalist pikiert.
»Entschuldigung, ich sage nicht, dass alle Männer so sind. Es gibt auch welche, die nett sind.«
»Wo?«
»Das dürfen Sie mich nicht fragen. Ich kenne keinen. Am dritten Tag komme ich zu mir. Stehe vom Fußboden auf, er schläft. Ich schau in den Spiegel und erkenne mich nicht. Das Gesicht aufgedunsen, die Augen verquollen und mit schwarzen Blutergüssen unterlaufen. Kein schöner Anblick, das sag ich Ihnen! Ich suche die Adresse raus, die ich von der Journalistin bekommen hab, und gehe zu Fuß da hin. Es ist Nacht. Es liegt der erste Schnee. Ich weiß nicht mehr, ob das noch im Oktober oder schon im November war. In dem Jahr hatten wir früh Schnee. Ich gehe also zu Fuß zu dem Heim, das sind etwa sechs Kilometer, in Richtung Kalusch, durch den Wald, damit mich keiner findet. Ich komme also hin, und da steht wirklich ein Heim. Es hat nach Fleischlaibchen gerochen und mir ist vor Hunger richtig das Wasser im Mund zusammengelaufen. Die Heimleiterin hat mich hineingelassen und mir zugehört. Ich erzähle ihr, dass ich nicht weiß, wo ich hin soll, zu meinen Eltern kann ich nicht zurück, das Haus ist auch ohne mich schon zu voll. Na ja, und schämen tu ich mich ja auch … Und zu Hause wird der Mann mich umbringen. Es hätte nicht mehr lange gedauert. Wenn ich zurückgeh, bringt der mich um. Ich erzähle, dass ich im Geschäft arbeite und sogar zahlen kann, wenn ich mein Gehalt bekomme. Dass ich ein ganz neues Leben anfangen will, in eine andere Stadt ziehen, nach Lemberg oder sogar nach Kiew, damit er mich nie wieder findet und ich diesen langjährigen Horror hinter mir lassen kann. Die Direktorin hört sich alles genau an. Sie schweigt die ganze Zeit. Dann sagt sie: Wir nehmen niemanden ohne Attest vom Frauenarzt. Punkt, aus. Und wo hätte ich das hernehmen sollen? Mitten in der Nacht? Ich sage zu ihr: Ich kann es morgen nachbringen, sie bleibt ungerührt: Wir haben unsere Vorschriften. Ohne Attest keine Aufnahme. Ich erzähle ihr noch alle möglichen Sachen, bettle sie an, frage sie: Wo soll ich denn hingehen? Darauf sie, und ich werde ihre Worte nie vergessen: ›Was weiß ich?! Wollen Sie jetzt auf die Tränendrüse drücken?! Kommen Sie morgen mit dem Attest und wir machen alles nach Vorschrift.‹ Da war ich mit meinen Nerven am Ende. Ich hab gedacht, das erste Mal im Leben bitte ich um Hilfe, weil ich die Nacht nicht überstehe, aber ohne Attest vom Frauenarzt lassen die mich nicht einmal rein. Hunde sind das, keine Menschen. Ich bin ja selber einer, Lena hat das richtig erkannt. Ich sage: Ich könnte ja hier auf der Sitzbank bis zum Morgen warten, aber die Leiterin, eisern: ›Das ist kein Obdachlosenversteck! Das ist eine staatliche Einrichtung!‹ Ich gehe auf die Straße raus, es schneit, ein richtiger Schneesturm. Um mich nur Wald. Die Knie geben nach. Ich irre ziellos durch den Wald und setze mich schließlich unter einen Baum. Irgendjemand hat mir erzählt, dass der Tod durch Erfrieren der schönste Tod von allen ist. Das stimmt, das kann ich bestätigen. Zuerst war es kalt, aber auf einmal ist alles schön geworden. Mir war warm, fast schon heiß. Und so ein Glücksgefühl hat mich überkommen, ich weiß noch, wie ich einfach zu lachen angefangen hab. Mein Lachen war im ganzen Wald zu hören. In dem Moment war ich sicher, dass ich alles kann und alles verstehe und dass meine Probleme nur Kleinigkeiten sind, das ist mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Und dann ist die Frau gekommen.«
»Die aus dem Heim?«
»Nein, eine andere. Ich hab ihr Gesicht nicht gut sehen können, weil es dunkel war. Reich mir deine Hand, sagt sie zu mir. Ich gebe ihr die Hand und wir fliegen zusammen nach oben, wie die Vögel. Wir fliegen im ganzen Himmel herum. Sie hält mich fest, damit ich nicht runterfalle. Die Ärzte sagten später, dass so etwas vorkommen kann, wenn man erfriert. Im Gehirn verengen sich die Blutgefäße und man gleitet in so einen Rauschzustand.«
»Sie sind wirklich geflogen – oder war das Einbildung?«
»Einbildung, vermutlich. Menschen können ja nicht fliegen, oder?«
»Eigentlich nicht.«
»Was dann war, weiß ich nicht mehr. Ich wache im Krankenhaus auf und kann meine Beine nicht bewegen. Die Ärzte meinen, das kommt von der Unterkühlung. In mir ist irgendwas abgefroren, das für das Gehen zuständig ist. Man hätte es vielleicht mit Operieren versuchen können,
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