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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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Valeologin.«
    Die Museumsfrau tat so, als wüsste sie, was das bedeutete. Lena fügte hinzu:
    »Ich mache Leute gesund.«
    »Also eine Ärztin?«
    »Könnte man sagen.«
    »Ich mag keine Ärzte, komm mir nicht zu nahe.«
    »Einverstanden.«
    Dann nahm Lena Hund bei sich auf. Hund packte ihre Sachen ohne Widerrede in einen kleinen Rucksack. Der Umzug selbst gestaltete sich alles andere als einfach.
    »Hund, hast du einen Rollstuhl? Wie bringen wir dich zu mir?«
    »Nein.«
    »Okay«, sagte Lena und drehte ihr den Rücken zu, »dann spann die Muskeln an, wir machen huckepack. Halt dich an meinem Hals fest, aber bitte nicht würgen.«
    Der erste Versuch, Hund hochzuheben, scheiterte. Der zweite ebenfalls.
    »Du siehst zwar dünn aus, bist aber ganz schön schwer! Zieh den Bauch ein!«
    Hunds Mutter wartete mit verschränkten Armen wütend im Flur.
    »Wo bringst du sie hin? Iwanka ist behindert, sie soll zu Hause bleiben!«
    »Iwanka wird eine Weile bei mir wohnen, das passt schon. Ist ja wohl egal, wo sie sitzt?«
    »Ich konnte dich nie leiden, Lena«, sagte Hunds Mutter und ging zur Seite.
    Lena trug Hund wie einen zurückgebliebenen Teenager aus dem Haus, schleppte sie auf ihrem Rücken. Der Wind wehte ihr den Schal ins Gesicht, und Lena rief:
    »Nimm den Schal weg, ich sehe nichts!«
    Hund nahm den Schal aus Lenas Gesicht.
    »Wir müssen es nur irgendwie zum O-Bus schaffen, so zirka hundert Meter. Von da an wird’s leichter.«
    Für diese einhundert Meter brauchten sie eine gefühlte Ewigkeit. Hund versuchte Lena zu entlasten und zog sich die ganze Zeit an ihren Schultern hoch.
    »Nicht hochziehen, Hund!«, schrie Lena. »Das ist noch viel anstrengender! Beweg dich nicht, halt dich einfach am Hals fest, aber würg mich nicht!«
    Im O-Bus waren alle Plätze besetzt – gepflegte Rentner fuhren kostenlos in den Stadtpark oder zum Friedhof, der sich seit Neuestem zu einem beliebten Treffpunkt für alleinstehende Menschen entwickelte. Witwer und Witwen lernten einander an den Gräbern ihrer verstorbenen Männer und Frauen kennen.
    »Ist hier bitte noch ein Sitzplatz frei?«, bat Lena. »Das Mädchen kann nicht gehen und ich kann sie nicht mehr tragen!«
    Die Rentner drehten die Köpfe gedankenverloren zum Fenster. In diesem Augenblick ließen sie ihre gesamte Kriegs- und Nachkriegsvergangenheit, die von harter Arbeit und heldenhafter Selbstaufopferung geprägt war, an sich vorüberziehen. Lena sprach den erstbesten Opa direkt an:
    »Wenn Sie jetzt nicht sofort aufstehen, werde ich meine Freundin auf Ihrem Kopf absetzen. Und Ihr Kopf wird das Gewicht kaum aushalten können.«
    Der Opa und sein Sitznachbar sprangen gleichzeitig von ihren Plätzen auf und riefen aus sicherem Abstand:
    »Das ist die Jugend von heute! Sich wie die Schweine besaufen und dann alte Menschen von ihrem Sitzplatz vertreiben! Der Alte kann ja stehen, der ist in seinem Leben noch nicht genug gestanden! Wer hat euch Gören so erzogen?«
    Die anderen Passagiere klinkten sich in die Diskussion ein und hielten sie in Gang. So ging es die ganze Fahrt über weiter.
    Eine Rentnerin konnte sich gar nicht mehr beruhigen und fühlte sich bemüßigt, ein pädagogisches Gespräch anzufangen. Dazu stand sie auf und kam näher heran (vermutlich war sie schwerhörig und hatte Angst, die Antwort nicht mitzubekommen). Dann fragte sie mit zuckersüßer Stimme:
    »Mädchen, werdet ihr uns nun sagen, wer euch zu solchen Gören erzogen hat?«
    Lena antwortete:
    »Na, Sie haben uns doch so erzogen.«
    Die Rentnerin brach in Tränen aus. Hund flüsterte:
    »Du lässt mich doch jetzt nicht allein, oder?«
    Gleichzeitig strahlte ihr kreidebleiches Gesicht vor Freude, als sei sie nach vielen Jahren der Leiden und Irrfahrten wieder nach Hause zurückgekehrt.
    Im Interview mit einem Journalisten sagte Hund später, dass sie Lenas Plan nicht kannte und gar nicht kennen wollte. Lena war die Einzige, die mich je mochte, sagte Hund. Ich habe ihr vertraut und bereue es bis heute nicht. Sie war stark und wusste immer, wo es langgeht. Ich hatte keinen Willen und war feig. Ich sag’s ehrlich, ich hatte keine großen Ansprüche an mein Leben. Ich wollte eine Familie haben – so groß wie die, in der ich aufgewachsen bin, nur besser. Aber Lena wollte etwas Größeres. Das kleine Glück war ihr nicht genug.
    »Wie kam es zu Ihrer Behinderung?«, fragte der Journalist.
    »Durch die Kälte«, sagte Hund.
    Der Journalist war ein gescheiterter Schriftsteller, der sein Geld mit seichten

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